Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
„Ernst des Lebens beginnt jetzt früher“
Abiturientin Hannah Hofmann aus Dormagen berichtet, wie die Corona-krise ihre Zukunftspläne umgeworfen hat.
Eigentlich hätte ich entspannt eine Abi-klausur pro Woche geschrieben, jetzt ist alles ein bisschen straffer. Gut geklappt hat es trotzdem, am Mittwoch war Deutsch dran und am Donnerstag Geschichts-lk. Ich habe für meine Verhältnisse ungewöhnlich lange gebraucht, um mich für eine der drei Aufgaben zu entscheiden – aber nicht, um abzuwägen, welche das kleinere Übel ist, sondern weil mich tatsächlich alle angesprochen haben.
Vor allem nach der Geschichts-klausur, für die ich seit Beginn des Lockdowns extrem viel gepaukt habe, war ich so erleichtert. Das war dann schon ein komischer Moment, denn normalerweise hätte man mit seinen Freunden und den anderen aus dem Kurs noch gequatscht, wäre sich in die Arme gefallen, weil’s vorbei ist. Stattdessen haben wir nur wenige Blicke über den Rand unserer Maske ausgetauscht, ein paar Worte noch, und weg waren wir.
So wird’s auch nach dem Abi sein, alle ziehen in verschiedene Richtungen. Der Abiball sollte der Abend sein, den wir ein letztes Mal zusammen verbringen. Noch einmal zusammen feiern, bevor sich alle verändern und neue Wege gehen. Offiziell abgesagt ist er noch nicht, aber natürlich glaubt keiner dran, dass er stattfindet. Ich war im Leitungskomitee und habe mit vielen anderen in den letzten anderthalb Jahren ziemlich viel Arbeit reingesteckt. Das war egal, wir haben es gerne gemacht, weil wir uns einfach so darauf gefreut haben. Sollte dieser Tag nicht etwas ganz Besonderes sein? Selbst meine Eltern erzählen noch von ihren Abschlussfeiern damals…
Unsere Abi-pullis waren schon im Druck, als der ganze Wahnsinn anfing. Sie wären in der Mottowoche zum Einsatz gekommen, vor allem am letzten Tag vor den Osterferien bei der Abi-parade in Neuss. Da waren wir ja auch schon in den letzten Jahren, und man hat immer so ein bisschen zu den Abiturienten aufgeblickt. Wir haben den Tag ersehnt, an dem wir selbst in unseren Pullis rumlaufen – niemand hätte gedacht, dass die einzige Möglichkeit dazu die Abi-klausuren sein werden. Aber es ist trotzdem schön und gibt einem ein bisschen von dem Gemeinschaftsgefühl zurück, das durch die Isolation verloren gegangen ist.
Auch unsere Lehrer haben sich ziemlich bemüht, die Atmosphäre
aufzulockern. Man muss ja vor den Prüfungen warten, bis der Umschlag mit den Aufgaben ins Klassenzimmer gebracht wird. Da saßen wir also alle, weit voneinander entfernt, mit frisch gewaschenen Händen – das läuft übrigens so ab, dass sich nach dem Betreten des Raums alle erstmal auf ihren Platz setzen und dann nacheinander nach vorne gehen und sich die Hände waschen. Ein bisschen merkwürdig ist das Ganze schon, aber ich find’s eigentlich gut und würde mir wünschen, dass auch nach Corona in den Schulen mehr auf Hygiene geachtet wird. Die 20 Minuten, die wir dann gewartet haben, vergingen wie im Flug – unser Lehrer hat einen Scherz nach dem anderen gemacht und wir haben quasi durchgelacht, bevor es dann ernst wurde.
Der Ernst des Lebens beginnt für mich wegen Corona jetzt auch früher als geplant. Eigentlich wollte ich einen Freiwilligendienst in Osteuropa machen und dort an einer Schule Deutsch unterrichten. Es war alles gut auf dem Weg, seit Dezember bin ich im Auswahlverfahren, im Februar war das Vorstellungsgespräch. Die Zu- oder Absage sollte Anfang April erfolgen, sie verschob sich auf Anfang Mai und schließlich sagte man mir, dass die Entscheidung bis August dauern könne – die Ausreise war für September geplant. Ich habe lange überlegt und meine Bewerbung schließlich zurückgezogen, weil ich eine klare Entscheidung brauchte – die ich dann selbst getroffen habe.
Eine noch viel grundlegendere Entscheidung habe ich ebenfalls wegen Corona getroffen. Mein Plan war es schon seit einigen Jahren, Pharmazie zu studieren. Ich fand den Mix aus wissenschaftlicher Laborarbeit und sozialem Bereich, der durch die Kundenberatung in der Apotheke zustande kommt, total interessant und passend für mich. Als dann vor ein paar Wochen zwei große Pharmakonzerne begannen, sich um die Herstellung des Impfstoffes gegen Covid-19 zu streiten, machte es bei mir Klick: Wird hier möglicherweise wirtschaftliches Interesse über die Gesundheit von Menschen gestellt?
Ich habe Pharmazie immer so gesehen, dass es um nützliche Hilfe für die Menschen geht, besonders in lebensbedrohlichen Situationen. Daher überdenke ich die Entscheidung zu diesem Studiengang momentan. Seit einem Besuch bei der EU in Brüssel im Februar interessiert mich auch der Studiengang Wirtschaftsrecht. Ganz festgelegt habe ich mich noch nicht, aber wer kann schon sagen, was in ein paar Monaten ist?
Protokoll: Deborah Hohmann