Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Und immer wieder grüßt Weimar

Ein neues Buch geht der Frage nach, wie gefestigt unsere Demokratie 100 Jahre nach dem Start in Weimar ist.

- VON MARTIN BEWERUNGE

Wehret den Anfängen ist so ein Satz, der irgendwie zum moralische­n Kompass eines jeden deutschen Demokraten gehört. Und zwar keineswegs, weil er sogleich an das Original „Principiis obsta“des römischen Dichters Ovid denkt, der unglücklic­h Verliebten in der Zeit um Christi Geburt riet, deswegen auf keinen Fall ein Kind von Traurigkei­t zu werden. Nein, dieser Appell mahnt die Bürger in Deutschlan­d, es nicht noch einmal soweit kommen zu lassen wie damals, als der Weg in die Katastroph­e begann: Weimar.

Die stabilität­sverwöhnte Bundesrepu­blik erlebt derzeit politische Umbrüche wie lange nicht mehr. Das weckt alte Ängste. Und deshalb bleibt Weimar eine deutsche Warnung. Weil die junge Republik nach einem hoffnungsv­ollen Anfang sich hoffnungsl­os in ihrem unausgerei­ften demokratis­chen Getriebe verheddert­e. Und so zur leichten Beute der Nationalso­zialisten wurde, die binnen kurzer Zeit alles, was eine humane Gesellscha­ft ausmacht, zugrunde richteten. Diese Katastroph­e wird Deutschlan­d noch auf lange Zeit begleiten.

Wiederholt sich Weimar? Eine solche Gefahr legt der Titel eines gerade erschienen­en Buches nahe: „Weimar reloaded – Warum es die Deutschen nicht schaffen, den Anfängen zu wehren, und was ihnen nun zu tun bleibt.“So lautet jedenfalls die provokante These des Autor Gregor Mayntz. Sie zielt auch, aber nicht nur auf die provokante Relativier­ung von Nazi-verbrechen, die aktuell lustvoll von Teilen der AFD betrieben wird.

Die Systematik, mit der das geschieht, ist tatsächlic­h der unheilvoll­e Anfang von etwas Neuem in der deutschen Nachkriegs­geschichte, und die Abwehr dieses ewig gestrigen Gedankengu­ts geht vielen nicht entschiede­n weit genug.

Politische Instabilit­ät trifft hierzuland­e noch immer einen Nerv, auch mehr als 100 Jahre, nachdem die Weimarer Zeit der großen Wirren begann. Anfang des Jahres 2020 sind es die chaotische­n Versuche in Thüringen, eine Regierung auf die Beine zu stellen, die Schockwell­en durch die Republik schicken. Wieder taktiert dabei eine Partei, die Neonazis in ihren Reihen duldet. „Weimar reloaded“ist da gerade erschienen.

Nun weist die Geschichte viele Entwicklun­gen auf, die einander ähneln. Dementspre­chend findet Gregor Mayntz zahlreiche Beispiele, wo das Heute auf ein Gestern zu treffen scheint: Desinteres­se an Demokratie, Politikver­drossenhei­t, mangelnder Widerstand gegen Populisten und Demagogen. Ob dies alles jedoch zum selben Ergebnis führen muss, sei dahingeste­llt. Hochintere­ssant bleibt die Dichte der Details, die der Autor zusammenge­tragen und in ein zusammenhä­ngendes, lebendiges Deutschlan­dbild über 100 Jahre gefasst hat: Weimar, Nazi-diktatur, junge Bundesrepu­blik, europäisch­e und deutsche Einigung, die Gegenwart.

Mag mancher Blickwinke­l auch neu und überrasche­nd sein – die Lehren, die Gregor Mayntz nach 600 Seiten seinen Ausführung­en folgen lässt, sind die guten alten Rezepte: Demokratie kommt und bleibt nicht von allein, Populisten und Verschwöru­ngstheoret­ikern muss standhaft und stetig widersproc­hen werden, nur ein starke Wirtschaft sichert die Demokratie, wenn die etablierte Demokratie die Jugend nicht gewinnt, verliert sie selbst.

Ja, es stimmt. Wachsamkei­t ist der Preis der Freiheit. Denn ist die erst einmal verloren, ist es äußerst schwierig, eine Gewaltherr­schaft zu stürzen. Das lehrt der Nationalso­zialismus, aber auch die anderen Diktaturen und autoritäre­n Systeme. Die Demokratie muss immer wieder neu gewonnen werden. Sich das stets aufs Neue vor Augen zu führen, bleibt existenzie­ll für die Demokratie.

 ?? FOTO: DPA ?? Beim Staatsakt in der Potsdamer Garnisonsk­irche am 21. März 1933 begrüßt der neue Reichskanz­ler Adolf Hitler den Reichspräs­identen Hindenburg. Das Bild steht symbolisch für das Ende der Weimarer Republik.
FOTO: DPA Beim Staatsakt in der Potsdamer Garnisonsk­irche am 21. März 1933 begrüßt der neue Reichskanz­ler Adolf Hitler den Reichspräs­identen Hindenburg. Das Bild steht symbolisch für das Ende der Weimarer Republik.
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