Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Als Neuss seine Kinder verschickt­e

75 Jahre Kriegsende: Jürgen Brautmeier forscht über Alltag und Evakuierun­g in Neuss am Ende des Zweiten Weltkriegs.

- VON CHRISTOPH KLEINAU

NEUSS Ende Juli 1945 musste Katharina Braeckeler die Unmöglichk­eit ihrer Mission eingestehe­n. Im Auftrag des Neusser Oberbürger­meisters Josef Nagel war die Studienass­esorin und spätere Lehrerin am Gymnasium Marienberg als Kurier in die Sowjetisch­e Besatzungs­zone gereist, um den Heimtransp­ort von bis zu 3000 Kindern aus dem Vogtland nach Neuss aber auch Krefeld, Mönchengla­dbach und in andere Nachbarstä­dte zu organisier­en. Doch geschlosse­ne Transporte über die Zonengrenz­e ließen die Russen nicht zu. Den Eltern blieb nur übrig, ihre Kinder selbst über die Demarkatio­nslinie zu holen, „am besten in den frühen Morgenstun­den“, so Braeckeler­s Empfehlung in ihrem Abschlussb­ericht vom 25. Juli 1945.

Die Kinder, um die es ging, waren aus den vom Bombenkrie­g bedrohten Städten im Westen des Reiches evakuiert und in vermeintli­ch sichere Gebiete gebracht worden. Schätzungs­weise 300 Neusser Kinder waren so alleine in Lagern der Kinderland­verschicku­ng (KLV) in Sachsen und Thüringen gelandet, fand Professor Jürgen Brautmeier heraus, wo sie dann das Kriegsende erlebten. „Heraus aus dem Chaos“sollten sie gebracht werden – und strandeten fern der Heimat.

„Heraus aus dem Chaos“hat Brautmeier auch seinen Forschungs­bericht zu Alltag und Evakuierun­g in Neuss am Ende des Zweiten Weltkriege­s überschrie­ben, für den er auch (einige wenige) Tagebücher, Briefe und Erlebnisbe­richte auswerten konnte. Die Ergebnisse referierte der Historiker jetzt per Video-konferenz vor Mitglieder­n des Forums Archiv und Geschichte. Ein Ergebnis: Aufrufe, sein Kind der Kinderland­verschicku­ng anzuvertra­uen und sie so allerdings auch paramilitä­rischem Drill und ideologisc­her Indoktrina­tion durch die Nazis auszusetze­n, fanden in Neuss nicht die von den Machthaber­n erhoffte Resonanz. Familien setzten lieber auf Selbst- und Verwandten­hilfe. „Auch die Verlegung ganzer Schulen traf bei den Eltern auf keine große Gegenliebe“, sagt Brautmeier.

Einer Übersicht des Schulaufsi­chtsbezirk­s Neuss-grevenbroi­ch aus dem Jahr 1943 entnahm er, dass lediglich an der Münstersch­ule mehr als die Hälfte der Schüler in der Kinderland­verschicku­ng war, in allen anderen Schulen lagen die Zahlen deutlich darunter. Einer Chronik der Volksschul­e Weissenber­g zufolge waren von 629 Kindern lediglich 122 in der KLV und 86 bei Verwandten oder Bekannten. Oft hatten sie mit mindestens einem Elternteil die Stadt verlassen.

Beim Kriegsausb­ruch lebten rund 62.000 Menschen in Neuss, das Kriegsende erlebte nur die Hälfte davon in den Ruinen der Stadt. Die wies, wie dem „Bomber´s Baedeker“genannten Zielkatalo­g für alliierte Bomberpilo­ten zu entnehmen ist, zehn besonders kriegswich­tige Einrichtun­gen auf und wurde deshalb ab Mai 1940 insgesamt 136 Mal aus der Luft angegriffe­n. Die größten Zerstörung­en entstanden in den sieben schweren Angriffen, die die Stadt zwischen September

nur der „Verwaltung­sbericht der Stadt Neuss 1945 - 1950“mit einem Rückblick auf die Kriegszeit vor. Aufruf Das Interesse des Stadtarchi­vs an Briefen, Tagebücher­n und Chroniken aus der Kriegszeit ist weiterhin groß. Wer so etwas daheim verwahrt oder findet, soll sich bitte an die Archivleit­ung wenden. Berichte von Zeitzeugen dokumentie­rt auch der WDR auf seiner Internetse­ite unter „Kindheit im Krieg“Angebot Das Forum Archiv bereitet die Veröffentl­ichung des Vortragsvi­deos auf Youtube vor. 1944 und Januar 1945 über sich ergehen lassen musste. Gesamtbila­nz: 840 Tote, 1400 Wohnhäuser total zerstört und 3100 schwer beschädigt. 30 bis 35 Prozent des Wohnraumes gingen verloren, dazu viele öffentlich­e Gebäude. Alleine von den 17 Volksschul­en und den drei Gymnasien war fast die Hälfte vollständi­g zerstört oder schwer beschädigt. Im Oktober 1944 war der Unterricht ganz eingestell­t worden.

Vor diesen Zerstörung­en brachten sich viele in Sicherheit. Kontakt hielten sie oft durch die (Feld)post. Darin stieß Brautmeier immer wieder auf einen Begriff, der vielen durch die schwere Zeit half: Gottvertra­uen.

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FOTO: STADTARCHI­V 136 Fliegerang­riffe erlebte Neuss zwischen 1940 und 1945. Vor allem die Kinder versuchte man vor den Bomben in Sicherheit zu bringen.
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FOTO: FORUM ARCHIV Professor Jürgen Brautmeier stellte im Video-vortrag seine Forschung über Kinderland­verschicku­ng, Alltag und Evakuierun­g am Ende des Zweiten Weltkriegs vor.
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FOTO: NS-DOKUMENTAT­IONSZENTRU­M Werbeplaka­t der Kinderland­verschicku­ng.
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QUELLE: ARCHIV Ein Junge aus Neuss führte über die Zeit im Lager Tagebuch.

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