Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Als Neuss seine Kinder verschickte
75 Jahre Kriegsende: Jürgen Brautmeier forscht über Alltag und Evakuierung in Neuss am Ende des Zweiten Weltkriegs.
NEUSS Ende Juli 1945 musste Katharina Braeckeler die Unmöglichkeit ihrer Mission eingestehen. Im Auftrag des Neusser Oberbürgermeisters Josef Nagel war die Studienassesorin und spätere Lehrerin am Gymnasium Marienberg als Kurier in die Sowjetische Besatzungszone gereist, um den Heimtransport von bis zu 3000 Kindern aus dem Vogtland nach Neuss aber auch Krefeld, Mönchengladbach und in andere Nachbarstädte zu organisieren. Doch geschlossene Transporte über die Zonengrenze ließen die Russen nicht zu. Den Eltern blieb nur übrig, ihre Kinder selbst über die Demarkationslinie zu holen, „am besten in den frühen Morgenstunden“, so Braeckelers Empfehlung in ihrem Abschlussbericht vom 25. Juli 1945.
Die Kinder, um die es ging, waren aus den vom Bombenkrieg bedrohten Städten im Westen des Reiches evakuiert und in vermeintlich sichere Gebiete gebracht worden. Schätzungsweise 300 Neusser Kinder waren so alleine in Lagern der Kinderlandverschickung (KLV) in Sachsen und Thüringen gelandet, fand Professor Jürgen Brautmeier heraus, wo sie dann das Kriegsende erlebten. „Heraus aus dem Chaos“sollten sie gebracht werden – und strandeten fern der Heimat.
„Heraus aus dem Chaos“hat Brautmeier auch seinen Forschungsbericht zu Alltag und Evakuierung in Neuss am Ende des Zweiten Weltkrieges überschrieben, für den er auch (einige wenige) Tagebücher, Briefe und Erlebnisberichte auswerten konnte. Die Ergebnisse referierte der Historiker jetzt per Video-konferenz vor Mitgliedern des Forums Archiv und Geschichte. Ein Ergebnis: Aufrufe, sein Kind der Kinderlandverschickung anzuvertrauen und sie so allerdings auch paramilitärischem Drill und ideologischer Indoktrination durch die Nazis auszusetzen, fanden in Neuss nicht die von den Machthabern erhoffte Resonanz. Familien setzten lieber auf Selbst- und Verwandtenhilfe. „Auch die Verlegung ganzer Schulen traf bei den Eltern auf keine große Gegenliebe“, sagt Brautmeier.
Einer Übersicht des Schulaufsichtsbezirks Neuss-grevenbroich aus dem Jahr 1943 entnahm er, dass lediglich an der Münsterschule mehr als die Hälfte der Schüler in der Kinderlandverschickung war, in allen anderen Schulen lagen die Zahlen deutlich darunter. Einer Chronik der Volksschule Weissenberg zufolge waren von 629 Kindern lediglich 122 in der KLV und 86 bei Verwandten oder Bekannten. Oft hatten sie mit mindestens einem Elternteil die Stadt verlassen.
Beim Kriegsausbruch lebten rund 62.000 Menschen in Neuss, das Kriegsende erlebte nur die Hälfte davon in den Ruinen der Stadt. Die wies, wie dem „Bomber´s Baedeker“genannten Zielkatalog für alliierte Bomberpiloten zu entnehmen ist, zehn besonders kriegswichtige Einrichtungen auf und wurde deshalb ab Mai 1940 insgesamt 136 Mal aus der Luft angegriffen. Die größten Zerstörungen entstanden in den sieben schweren Angriffen, die die Stadt zwischen September
nur der „Verwaltungsbericht der Stadt Neuss 1945 - 1950“mit einem Rückblick auf die Kriegszeit vor. Aufruf Das Interesse des Stadtarchivs an Briefen, Tagebüchern und Chroniken aus der Kriegszeit ist weiterhin groß. Wer so etwas daheim verwahrt oder findet, soll sich bitte an die Archivleitung wenden. Berichte von Zeitzeugen dokumentiert auch der WDR auf seiner Internetseite unter „Kindheit im Krieg“Angebot Das Forum Archiv bereitet die Veröffentlichung des Vortragsvideos auf Youtube vor. 1944 und Januar 1945 über sich ergehen lassen musste. Gesamtbilanz: 840 Tote, 1400 Wohnhäuser total zerstört und 3100 schwer beschädigt. 30 bis 35 Prozent des Wohnraumes gingen verloren, dazu viele öffentliche Gebäude. Alleine von den 17 Volksschulen und den drei Gymnasien war fast die Hälfte vollständig zerstört oder schwer beschädigt. Im Oktober 1944 war der Unterricht ganz eingestellt worden.
Vor diesen Zerstörungen brachten sich viele in Sicherheit. Kontakt hielten sie oft durch die (Feld)post. Darin stieß Brautmeier immer wieder auf einen Begriff, der vielen durch die schwere Zeit half: Gottvertrauen.