Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Die brutale Mathematik des Coronavirus
Der rasche Anstieg der Neuinfektionszahlen versetzt die Politik in Panik. Die Dynamik der Fallzahlen ist aber die gleiche wie zu Beginn der Pandemie. Das Virus breitet sich mal wieder exponentiell aus.
Nichtbeachtung stehen durch den Zinseszins-effekt auf einmal gewaltige Summen zur Rückzahlung an, die nicht selten in eine Privatinsolvenz münden.
Bei der durch das Coronavirus ausgelösten Krankheit Covid-19 kann das zu noch fataleren Fehleinschätzungen führen. Wer am Anfang einer Epidemie nicht rigoros mit Testverfahren oder Sperrzonen durchgreift, riskiert schnell die Durchseuchung der gesamten Bevölkerung – ohne Impfstoff und ausreichende Krankenhauskapazitäten. Das passierte ganz am Anfang der Pandemie und auch jetzt wieder – bis vor Kurzem. Obwohl die Fallzahlen seit Wochen steigen, wurde das Gesamtgeschehen vernachlässigt. Kommunen schritten bei massiven Verstößen gegen Hygieneregeln bei Partys oder gegen die Obergrenze bei privaten Feiern nicht ein.
Die Dynamik hat sich jetzt verselbstständigt. Dabei ist die Mathematik
der Exponentialfunktion immer dieselbe. Vereinfacht funktioniert die Logik nach der berühmten Legende um Sissa ibn Dabir, der im dritten oder vierten Jahrhundert nach Christus in Indien lebte und angeblich das Schachspiel erfand. Weil sein König von diesem Einfall so angetan war, gewährte er dem Gelehrten gönnerhaft einen Wunsch. Sissa verlangte, der Maharadscha möge ihm aus den königlichen Kornkammern ein Weizenkorn auf das erste Feld des Schachbretts setzen, dann die doppelte Menge, also zwei Körner, auf das nächste, darauf wiederum die doppelte Menge auf das dritte Feld, bis alle Felder des Schachbretts gefüllt seien. Der König fühlte sich wegen des allzu bescheidenen Wunsches beleidigt. Der Legende nach war er so aufgebracht, dass er Sissa töten lassen wollte. Nur seinen Wunsch sollte er noch vorher erfüllt bekommen.
Schon nach kurzer Zeit erschienen die Rechenmeister des indischen Herrschers und vermeldeten, dass die Kornkammern des Reichs nicht ausreichten, um den „bescheidenen“Wunsch zu erfüllen. Die Zahl lässt sich mithilfe der geometrischen Summenformel genau bestimmen. Es sind 18 Trillionen, 446 Billiarden, 744 Billionen, 73 Milliarden, 709 Millionen, 551 Tausend, 615. Beim durchschnittlichen Gewicht für 1000 Körner von 40 Gramm käme man ungefähr auf das 1200-Fache der Weltweizenernte von 2004, die 624 Millionen Tonnen betrug.
Das kann man auf die Verbreitung des Coronavirus übertragen. Wenn ein Urpatient jeden Tag zwei weitere infiziert, haben am ersten Tag drei das Virus, am zweiten schon neun, am dritten 27 und am vierten bereits 81. Schon nach 24 Tagen sind 33,6 Millionen Menschen vom Virus befallen. Die tatsächliche Dynamik der Expansion des Erregers ist derzeit geringer. So stecken nach den neuesten Zahlen des RKI 100 Infizierte
im Schnitt 118 weitere Personen an. Daraus ergibt sich die Reproduktionsrate 1,18. Sollte dieser R-wert, der sich täglich ändern kann, bis Ende Oktober anhalten, wären es dann schon fast 80.000 neue Fälle pro Tag.
In Nordrhein-westfalen mit seinen 19 Hotspots verdoppelt sich die Zahl der Neuinfektionen alle neun Tage laut RKI (Stand: 15. Oktober 2020). Statt 1213 Fällen würde die Zahl der Ansteckungen Ende November schon auf 77.632 hochschnellen. Das Land wäre lahmgelegt.
Die Exponentialfunktion, mit der man das geometrische Wachstum von Größen beschreibt, ist abzugrenzen vom linearen Wachstum. Bei dem nimmt der Bestand immer um die gleiche absolute Menge zu, beim geometrischen Wachstum um den gleichen Prozentsatz. Das heißt, die Wachstumsrate bleibt gleich. Würde das Virus sich nur arithmetisch vermehren, bliebe es bei den 1213 Ansteckungen, die NRW derzeit hat. Bis Ende November (nach 53 Tagen) würden insgesamt 83.700 neue Fälle hinzukommen. Das wäre beherrschbar. Bei einer Verdoppelung der Zahl der Ansteckungen alle neun Tage wären es fast eine Million neue Fälle bei knapp 18 Millionen Einwohnern. Der Vergleich zeigt die wuchtige Dynamik des exponentiellen Wachstums.
Exponentiell kann ein Bestand, also eine Bevölkerung oder ein Kapitalbetrag, auch abnehmen. Auch an einen Grenzwert kann sich der Bestand exponentiell anpassen – nach oben oder unten. Dann spricht man von einer Ober- oder Untergrenze. Es ist klar, dass irgendwann eine Bevölkerung vom Virus infiziert oder in Teilen immun ist. Dann nehmen die Neufälle ab. Danach strebt übrigens die Politik. „Wir müssen den Anstieg der Kurve abflachen“, sagte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zu Beginn der Pandemie. Das gilt jetzt wieder – sogar verstärkt.