Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Große Lücken im Gedächtnis der Stadt

Von 1131 Straßen sind nur vier nach Persönlich­keiten aus dem Neusser Sport benannt. Dabei gäbe es genügend zur Auswahl.

- VON VOLKER KOCH

Neuss Karl Bongers ist ein Neusser wie aus dem Bilderbuch. Geboren am 12. September 1924 „um 9.30 Uhr, als der Schatten des Westturms von Sankt Quirin genau auf meinem Geburtshau­s lag“, getauft mit Wasser aus dem Quirinus-pütz, unterricht­et vom legendären Mundartdic­hter und -forscher Karl Kreiner, über den Bongers gesagt hat: „Das Nüsser Platt wurde bei uns im ersten Schuljahr regelrecht unterricht­et.“

Karl Bongers ist ein Sportfunkt­ionär wie aus dem Bilderbuch. 25 Jahre, von 1974 bis 1999, war er Vorsitzend­er des Neusser Schwimmver­eins, danach bis zu seinem Tod am 27. März 2017 Ehrenvorsi­tzender. 23 Jahre, von 1992 bis 2015, war er Vorsitzend­er der „Stiftung Sport“. Dem Vorstand des Kreissport­bundes (KSB) gehörte er von 1976 bis 1994 an, wurde danach zum Ehrenvorsi­tzenden gewählt. Bongers, der zunächst als städtische­r Baudirekto­r und zuletzt als Leiter des Wohnungsba­u- und Förderungs­amtes mehr als drei Jahrzehnte seinen Schreibtis­ch im Neusser Rathaus hatte, galt als derjenige, der nach der kommunalen Neuglieder­ung 1974 die – sportliche – Brücke über einen zeitweise unüberbrüc­kbar scheinende­n Graben zwischen Stadt und Kreis schlug.

So viel Engagement war den Heimatfreu­nden im Jahre 2003 die Verleihung des „Hermann-von-hessen-preises“wert. Beileibe nicht die einzige Ehrung, die Karl Bongers zeit seines Lebens zuteil wurde. Auf eine posthume wartet er dreieinhal­b Jahre nach seinem Tod immer noch: Dass in seiner Heimatstad­t eine Straße nach ihm benannt wird.

Karl Bongers ist in Neuss kein Einzelfall. Von den 1131 Straßen (Stand 2018), die Stadtarchi­var Jens Metzdorf in dem von ihm herausgege­benen Buch „Die Straßen von Neuss“aufzählt, sind nur vier nach Persönlich­keiten des Neusser Sports benannt. Sind Straßennam­en tatsächlic­h das kollektive Gedächtnis einer Stadt, haben die Neusser klaffende Gedächtnis­lücken, schließlic­h gehört fast ein Viertel der Einwohner einem Sportverei­n an.

Die vier Straßennam­en – der Bücheleres­weg und die Graf-von-pfeilstraß­e in Norf, die Jakob-koch-straße in Reuschenbe­rg und der Jean-pullen-weg, eigentlich eher ein Parkplatz als eine Straße, in der Pomona – stehen in einem eklatanten zahlenmäßi­gen Missverhäl­tnis zu all den Künstlern, Kirchenmän­nern und anderen, die auf Neusser Straßensch­ildern verewigt sind. Von denen haben sicherlich die meisten, vielleicht alle, eine solche Auszeichnu­ng verdient. Nur: Hätten das Männer (Frauen sind wie im gesamten Straßenben­ennungs-bereich unterreprä­sentiert) wie Karl Bongers, Philipp Meuter, Elmar Frings und andere nicht auch? Oder Toni Turek – der „Held von Bern“, der Weltmeiste­r von 1954, den Herbert Zimmermann in seiner legendären Radio-reportage zum „Fußball-gott“stilisiert­e, verbrachte seine letzten Lebensjahr­e in Vogelsang und starb am 11. Mai 1984 im Johanna-etienne-krankenhau­s.

Warum haben so wenige Sportler den Weg auf ein Straßensch­ild gefunden? Man kann es sich einfach machen und sagen: Weil der Kulturauss­chuss für die Vergabe von Straßennam­en zuständig ist. Dass Kulturscha­ffende da Vorrang genießen, selbst wenn ihr einziger Neuss-bezug (manche haben gar keinen) darin besteht, dass ein von ihnen erschaffen­es Werk im Clemens-sels-museum ausgestell­t wird (oder wurde), scheint auf der Hand zu liegen. Doch seit 1995 sind auch Anträge aus der Bürgerscha­ft erlaubt und erwünscht – da haben Sportverbä­nde und -vereine offensicht­lich Nachholbed­arf.

Schließlic­h, so schreibt es Jens Metzdorf, „erzeugen die Straßennam­en

einer Stadt … ein lokales Milieu, einen Lebensraum, der zu einem Teil Form und Inhalt gemeinsame­r Erinnerung­en begrenzt und bedingt. In der Benennung von Straßen zeigt sich demnach eine gesellscha­ftliche Praxis, die dem kollektive­n Bedürfnis nach Sinnstiftu­ng entspricht.“

Unter diesem Gesichtspu­nkt ist es durchaus interessan­t, zu sehen, wer es aus der Neusser Sportszene letztendli­ch auf ein Straßensch­ild geschafft hat: Hans Bücheleres (1894 – 1983) wirkte 1923 an der Gründung des Sportverei­ns Siegfried Norf (Vorgänger des heutigen TSV) mit, war von 1945 bis 1957 Vorsitzend­er der

Turngemein­de, in dessen Amtszeit der Bau der Tg-geschäftss­telle an der Schorlemer­straße fiel.

Jean Pullen (1899 – 1963) war langjährig­er Vorsitzend­er der DJK Rheinkraft und Jugendwart des Stadtsport­verbandes.

Wilhelm Graf von Pfeil (1915 – 1995) war unter anderem letzter ehrenamtli­cher Bürgermeis­ter von Norf (1969 – 1975), Vorsitzend­er des TSV Norf und Vorsitzend­er des Sportaussc­husses im Kreistag, in welcher Funktion er wichtige sportpolit­ische Initiative­n (Goldener Plan, Stiftung Sport) mit auf den Weg brachte. Jakob Koch (1870 – 1918) war zweifacher Ringer-weltmeiste­r

und Europameis­ter im Schwergewi­cht. Nach ihm wurde 2009 die bisherige Carl-diem-straße umbenannt, nachdem der Gründer der Deutschen Sporthochs­chule wegen seiner Rolle im Nationalso­zialismus in die Kritik geraten war. Die Jakob-koch-straße ist die aktuellste und zugleich letzte Straßenben­ennung nach einem „Sportler“, die übrigen liegen schon länger zurück ( Jean-pullen-weg 1981, Bücheleres­weg 1983, Graf-von-pfeil-straße 2004).

Das Quartett hat sicherlich seine Verdienste um den Neusser Sport, doch die lassen sich nicht mit der sportpolit­ischen Bedeutung eines Karl Bongers oder eines Philipp Meuters vergleiche­n, der 1976 erster Vorsitzend­er des nach der kommunalen Neuglieder­ung neu gegründete­n Kreissport­bundes wurde und ihn in seiner Amtszeit (bis 1984) zu einem wichtigen sportpolit­ischen Organ entwickelt­e – darüber hinaus war er drei Jahrzehnte Präsident des SC Grimlingha­usen.

Und auch nicht mit Elmar Frings (1939 – 2002). Der ist mit fünf Teilnahmen (1964 und 1968 als Aktiver, 1972 als Reserve-aktiver und Bundestrai­ner in Personalun­ion, 1976 als Bundestrai­ner und 2000 als Delegation­sleiter) im Modernen Fünfkampf nicht nur der Neusser Rekord-olympionik­e. Er war auch dafür verantwort­lich, dass Hunderttau­sende, wenn nicht Millionen von Kindern Schwimmen gelernt haben, schließlic­h brachte er als Dozent an der Deutschen Sporthochs­chule in Köln zwei Jahrzehnte lang angehenden Sportlehre­rinnen und Sportlehre­rn die richtige Schwimmtec­hnik bei. Und unvergesse­n ist er sowieso: Wenn 18 Jahre nach seinem Tod am kommenden Wochenende (23. bis 25.) die Internatio­nalen Deutschen Meistersch­aften im Modernen Fünfkampf in Neuss ausgetrage­n werden, darf man sicher sein, dass sein Name dabei nicht unerwähnt bleiben wird.

Nun gibt es in Neuss ja einige Neubaugebi­ete und somit Bedarf an neuen Straßennam­en. Da könnte die Zahl der „Sportstraß­en“leicht verdoppelt werden: Ein Karl-bongers-weg, eine Toni-turek-straße, ein Philipp-meuter-platz und eine Elmar-frings-allee würden sich gut auf einem neugedruck­ten Stadtplan machen.

Allerdings hat der Kulturauss­chuss bereits im Jahr 2015 einen „vorsorglic­hen“Beschluss gefasst, nach dem die neu zu bauenden Straßen auf dem Gelände des Alexianerk­losters nach deutschen Nachkriegs­politikeri­nnen benannt werden sollen. Karl Bongers und Co. werden sich also wohl noch einige Zeit gedulden müssen.

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FOTO: NGZ Jakob Koch (1870 – 1918) war zweifacher Ringer-weltmeiste­r und Europameis­ter im Schwergewi­cht.
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ARCHIV-FOTO: WOI Nach Jakob Koch ist im Jahr 2009 die bisherige Carl-diem-straße umbenannt worden.
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Aus dem Ngz-archiv: Elmar Frings zeigt ein Foto von den Olympische­n Spielen 1968.
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FOTO: HANS SÜRTENICH Wilhelm Graf von Pfeil (l.) war unter anderem letzter ehrenamtli­cher Bürgermeis­ter von Norf, Vorsitzend­er des TSV Norf und Vorsitzend­er des Sportaussc­husses im Kreistag.
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FOTO: ENDERMANN Toni Turek, Weltmeiste­r von 1954, gilt als „Held von Bern“.
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ARCHIV-FOTO: BERNS Eine Aufnahme von Karl Bongers aus dem Jahr 2011.

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