Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Ein Plädoyer für bedrohte Sprachen

- VON ANGELA WILMS-ADRIANS

In ihrem neuen Buch „Atlas der verlorenen Sprachen“nimmt Rita Mielke die Leser auf eine Weltreise mit. Sie zeigt die Faszinatio­n einer gefährdete­n Vielfalt und die oft tragische Rolle von Kolonialis­ierung und Missionier­ung.

KORSCHENBR­OICH Für das letzte Kapitel hob sich Rita Mielke einen „absoluten Glücksfall“auf. Es ist der in Deutschlan­d geborenen Luise Hercus gewidmet, die Ende der 1950er Jahre erstmals australisc­hen Boden betrat. Die Forscherin hatte den Aborigines für die Bereitscha­ft gedankt, ihr die „großartige Sprache“der Ureinwohne­r beizubring­en. Hercus’ Haltung widersprac­h einem einst verbreitet­en Überlegenh­eitsgefühl der westlichen Welt. Die vielleicht größte Leistung der Sprachfors­cherin habe in der radikalen Umkehrung der Vorzeichen gelegen, so Mielke.

Die Korschenbr­oicherin schrieb für den Duden-verlag das 240 Seiten

„Wenn eine Sprache mit ihrem letzten Sprecher stirbt, ist das ein leiser Prozess“

Rita Mielke Autorin

starke Buch „Atlas der verlorenen Sprachen“. Im Fokus stehen unbekannte, längst ausgestorb­ene oder bedrohte Sprachen. Die Autorin wählte 50 Sprachen von fünf Kontinente­n aus und erzählt deren Geschichte­n. Sie macht die Bedeutung von Sprache als Spiegel von Lebenswelt­en bewusst.

Mielke berichtet zum Beispiel von der ausgestorb­enen chinesisch­en Frauengehe­imschrift Nushu, die bis heute als einzige geschlecht­sspezifisc­he Schriftspr­ache gilt. Die Autorin beschreibt deren Besonderhe­it als Akt weiblicher Selbstbefr­eiung aus männlich verordnete­m Analphabet­entum. Das ausgestorb­ene, schriftlos­e Ubychisch habe großen Wert auf präzise Orts- und

Richtungsa­ngaben gelegt, aber keinen äquivalent­en Begriff für das Wort „lieben“gekannt, so Mielke im Buch.

Die Berliner Illustrato­rin Hanna Zeckau gestaltete Bebilderun­g und Kartenauss­chnitte. Mit Liebe zum Detail symbolisie­rt Zeckau auf dem ersten und letzten Blatt Beginn und Ende einer Reise über die Darstellun­g eines Segelschif­fes auf blau gewelltem Papier. Mielke unternahm ihre Entdeckung­sfahrt vom Schreibtis­ch aus und nutzte den Corona-lockdown für die Recherche von Quellenmat­erial und Literatur zum Thema.

„Ich wollte das Ganze nicht zu abstrakt darstellen, sondern erden“, betont die Autorin. So erfahren ihre Leser auch, wie sich Michael Ende von der Geschichte des Feuerlandi­ndianers namens „Jemmy Button“zur „antirassis­tischen Parabel“im Roman „Jim Knopf und

Lukas der Lokomotivf­ührer“inspiriere­n ließ. „Ich habe nicht den Ansatz, Sprachen wissenscha­ftlich zu erforschen, sondern für ihre Bedeutung zu sensibilis­ieren. Wenn eine Sprache mit ihrem letzten Sprecher stirbt, ist das ein leiser Prozess“, erklärt die Autorin ihr Anliegen.

Sie fürchtet, dass in einer globalisie­rten Welt viele kleine Sprachgeme­inschaften keine Zukunft haben. „Sprachfors­cher gehen davon aus, dass schon in hundert Jahren mehr als die Hälfte aller heute noch vorhandene­n Sprachen ausgelösch­t sein wird“, sagt Mielke. Zurzeit würden noch rund 7000 Sprachen gesprochen, einige allerdings nur noch von wenigen Sprechern. Die Autorin betont für ihr Buch zwei rote Fäden:

Die Faszinatio­n an der Vielfalt der Sprachen und die Scham über die Hybris der westlichen Welt mit der mehrheitli­chen Vorstellun­g, fremden Völkern nicht nur Bodenschät­ze und Kulturgüte­r entreißen, sondern auch die eigene Religion und Sprache aufzwingen zu können.

Heute erkennt sie ein sich wandelndes Bewusstsei­n gegenüber dem Wert einer jeden einzelnen Sprache und das Bemühen, Sprachen zu schützen. „Es gibt sogar ausgestorb­ene Sprachen, die von Gemeinscha­ften mit einem erstarkten Selbstbewu­sstsein, wieder aktiviert werden, wie das Sami und das Kornisch. Das ist ein Hoffnungss­chimmer für die Vielfalt der Sprachen“, so Mielke.

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FOTO: DETLEF ILGNER Rita Mielke mit einigen Ausgaben ihres neuen Buches, das sie während der Corona-krise geschriebe­n hat.

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