Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Wie Treibgut im Häusermeer von Athen
Die griechische Regierung bringt nach dem Brand im Lager Moria Migranten von Lesbos aufs Festland. Dort sind sie auf sich selbst gestellt. Der Weg von den Inseln führt viele Geflüchtete ins Elend auf die Plätze und Straßen der Hauptstadt.
Und niemand scheint ihnen auf ihrer Sprache Farsi vor der Abreise in Lesbos einen Rat gegeben zu haben, wie sie in Athen ein Obdach finden könnten. Sie hätten schließlich von anderen Afghanen auf dem Viktoriaplatz von einem von der EU finanzierten Programm für anerkannte Flüchtlinge erfahren, erzählt Amena Nowrozi. Es nennt sich Helios. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) bietet dabei anerkannten Geflüchteten Integrationsund Sprachkurse an. Sie erhalten Unterstützung bei der Suche nach Wohnung und Arbeit.
Helios klang für die Afghanin und ihren Mann zunächst wie der Schlüssel zu einer besseren Zukunft. Aber wie der positive Asylbescheid auf Moria hatte auch diese Hoffnung einen Haken. Anerkannte Flüchtlinge benötigen zunächst eine Steuernummer und ein Bankkonto, um vom Helios-programm Hilfe zu erhalten. Beides können in Griechenland nur Menschen beantragen, die eine feste Wohnung haben. Flüchtlinge benötigen also derzeit eine Wohnung, um von Helios Hilfe bei der Wohnungssuche zu erhalten. Die Nowrozis hatten das Glück, dass ein Afghane sie vorübergehend aufnahm. Der Mann erlaubte ihnen, seine Adresse zu nutzen für den Antrag auf eine Steuernummer. Diese Hürde schien genommen. Doch wie sollten die Nowrozis die aus dem Internet heruntergeladenen griechischen Formulare für die Steuernummer ohne Hilfe ausfüllen? Amena
Nowrozi entschied sich deshalb, am 2. September ein Risiko einzugehen. Sie setzte sich in einen Bus, um einen anderen Afghanen zu treffen, der bereits Griechisch spricht und helfen wollte. Ihr Plan ging schief.
Die Afghanin versteht nur die arabischen Ziffern, nicht die griechischen Buchstaben auf ihrem Bußgeldbescheid. Die Zahl „72“sucht sie nun in ihren Albträumen heim. Sie vervielfältigt sich zu astronomischen Summen. „Ich habe von einem Mann gehört, der vor einigen Monaten ein Bußgeld nicht zurückgezahlt hat und nun der Stadt Athen 7000 Euro schuldet“, sagt sie. Noch einmal ein Bußgeld zu riskieren, um mit dem Übersetzer die für die Steuernummer nötigen Formalitäten zu erfüllen, traue sie sich nicht.
Zoe Kokalou von der Hilfsorganisation Arsis vermutet, dass Menschen wie Amena Nowrozi in den kommenden Monaten von den Straßen und Plätzen Athens verschwinden werden. Allerdings dürften die wenigsten ihren Weg in das Helios-progamm und damit in ein Leben unter eigenem Dach finden, vermutet sie. Kokalou genehmigt sich einen Schokoladenfrappé in einem Straßencafé unweit des Viktoriaplatzes. Etwas zur Aufmunterung muss sich die Helferin in jenen Wochen nach dem Brand im Lager Moria Anfang September wohl gönnen. Ihre Organisation mietet mit Geld aus einem Eu-budget für rund 2000 Geflüchtete Wohnungen in ganz Griechenland an. Nun sollen viele ihrer Klienten die Wohnungen räumen. Kokalou beschreibt, warum seit Juli immer mehr Flüchtlinge wie Treibgut von den griechischen Inseln in den Hafen von Piräus gespült wurden und nun ratlos durch das Häusermeer der Hauptstadt ziehen. Die griechischen Behörden hätten zum einen seit dem Beginn der Corona-pandemie in Moria und anderen Lagern auf den griechischen Inseln im Eilverfahren Asyl gewährt, erklärt Kokalou. Moria und andere Camps seien im März 2020 so überfüllt gewesen, dass sie virologischen Zeitbomben glichen, meint die Helferin. „So viele wie möglich sollten weg aus den Lagern“, meint die Helferin. Gleichzeitig erließ die Regierung des Konservativen Kyriakos Mitsotakis jenes Gesetz, das nach 30 Tagen die finanzielle Unterstützung der laut UNHCR 11.237 anerkannten Asylbewerber beendete und Flüchtlinge dazu verpflichtete, ihre mit Eu-geldern finanzierten Unterkünfte zu verlassen. So rollte im
Sommer eine weitere Welle obdachloser Geflüchteter auf Athen zu. „Es stimmt zwar, dass bisher kein Geflüchteter zwangsgeräumt wurde. Aber viele verlassen ihre Wohnungen freiwillig, solange noch ein Betrag auf ihrer Geldkarte war. So konnten sie sich wenigstens noch Kleidung und Essen kaufen, die sie auf der Straße benötigen“, sagt Kokalou. Aus der Obdachlosigkeit heraus sei es angesichts der behördlichen Hürden nahezu unmöglich, in das Helios-programm für anerkannte Asylbewerber zu kommen.
Nach dem Brand im Lager Moria bildet sich womöglich gerade eine drittewelle von Geflüchteten, die sich auf dem griechischen Festland in der Obdachlosigkeit wiederfinden könnte. Die griechischen Behörden wollen 2500 Geflüchtete von Lesbos auf das Festland verlegen. Wie bei jenen, die nach dem Ausbruch der Pandemie aufs Festland gebracht worden sind, handelt es sich wieder um Menschen mit einem positiv beschiedenen Asylantrag oder als besonders gefährdet eingestufte Gruppen wie Schwangere oder alleinstehende Frauen. Unklar ist derzeit, wie viele der von Lesbos auf das Festland gebrachten Migranten in andere europäische Länder ausgeflogen werden. Die Bundesregierung hatte im September angekündigt, 1553 anerkannte Flüchtlinge aus Moria aufzunehmen. 139 unbegleitete Minderjährige sowie kranke Flüchtlingskinder und ihre Angehörigen landeten Ende September mit einer Maschine in Hannover.
Doch Helfer wie Zoe Kokalou haben Zweifel, ob Griechenland die Geflüchteten wirklich ziehen lassen will. In der griechischen Öffentlichkeit mehre sich die Sicht, dass eine Aufnahme im Ausland die Probleme Griechenlands nicht lösen, sondern neue schaffen könnte, meint sie. Die griechische Regierung hatte nach dem Brand in Moria vor vier Wochen zunächst ausgeschlossen, dass Migranten in andere europäische Länder gebracht werden. Regierungssprecher Stelios Petsas bezeichnete wenige Tage nach dem Feuer eine Evakuierung als Belohnung für Brandstiftung. Jede auch noch so kleine Hoffnung auf eine Zukunft in Deutschland oder Schweden könnte weitere Flüchtlinge in der Türkei dazu bewegen, sich in die Boote nach Lesbos oder Samos zu setzen, fürchten viele Griechen. Kokalou glaubt, dass die griechische Regierung etwas anderes anstrebt, als die Flüchtlinge loszuwerden. „Die Menschen wollen die Geflüchteten nicht als Nachbarn haben, sie werden sie aber auch nicht lange auf den Straßen dulden. Also bleiben nur neue Lager“, sagt sie.
Anerkannte Geflüchtete könnten freiwillig in von der griechischen Armee bewachte Camps ziehen, wenn die Alternative Hunger und Elend auf den Straßen von Athen und anderen griechischen Städten auf dem Festland sei, vermutet Kokalou. Helfer der griechischen Hilfsorganisation Refugee Support Aegean berichten, dass die Polizei obdachlosen Flüchtlingen mit legalem Aufenthaltsstatus bereits angeboten habe, hinter Zäunen und Gitter in bewachte Abschiebezentren für illegale Migranten zu ziehen. Die griechische Regierung hüllt sich zu den Vorwürfen in Schweigen. Schriftliche Anfragen an den Sprecher des Migrationsministers Mitarakis bleiben genauso unbeantwortet wie Anrufe auf sein Mobiltelefon.
Kamar Almasi würde sofort das Flugzeug besteigen, das sie nach Syrien zurückbringt. Als sie 2017 ihre Heimatstadt Deir-es-sor verließ, war die Terrormiliz IS noch nicht besiegt. In Ostsyrien ist der IS zurückgedrängt. Doch selbst wenn die Gotteskrieger zurückkämen, wäre sie lieber dort zwischen den Ruinen als mit dem Rücken zur Wand in Athen. Die 33-jährige Mutter sitzt mit ihrem Sohn auf einer Bank in einem Park unweit der Metrostation Kallithea. Vor einigen Tagen hat die Mutter zuletzt versucht, Geld mit Chipkarte für Flüchtlinge abzuheben. Da war das Konto leer. „Ich hatte die Hoffnung, dass alles besser wird, als wir auf Lesbos Asyl bekommen haben“, meint die Mutter.
Jetzt wartet sie, bis die Lebensmittel zur Neige gehen oder die Polizei vor der Tür steht. Denn die 30 Tage, in denen Familie Almasi nach dem positiven Asylbescheid noch in ihrer von der EU finanzierten Wohnung bleiben kann, laufen demnächst ab. Noch versucht Zoe Kokalous Organisation Arsis, einen Aufschub für die Familie zu erreichen. Almasis Mann und eine Tochter sind laut Angaben von Arsis chronisch krank. Weil das Verfahren laufe, wolle sie nicht ihren wahren Namen an die Medien weitergeben, sagt die Syrerin. Nach 60 Tagen wäre allerdings auch eine Gnadenfrist vorbei. „Dann wohne ich hier im Park mit meinen Kindern“, sagt Almasi. Einen Wunsch habe sie: alle Sprachen der Welt sprechen zu können.