Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Vom Scheitern in der Pandemie
MEINUNG Der Kampf gegen Corona steht in Deutschland an einem Wendepunkt. Bund und Länder müssen effizienter, präziser und erfolgreicher agieren. Denn eines sollte jetzt klar sein: Die Gefahr ist real – gesundheitlich und politisch.
Als die Bundeskanzlerin vor zwei Wochen mit den Ministerpräsidenten über den weiteren Umgang mit der Pandemie beraten hatte, lobte sie, wie sehr die Bevölkerung die Einschränkungen mitgetragen habe. „Die Menschen in Deutschland haben unglaublich viel mitgemacht und damit auch dazu beitragen, dass wir im Großen und Ganzen besser dastehen als viele unserer Nachbarländer“, sagte Angela Merkel, an ihrer Seite die beiden Ländervertreter Markus Söder und Michael Müller. Die Politik hat der Bevölkerung ein gutes Zeugnis ausgestellt – aber sie selbst kann bei nüchterner Betrachtung allenfalls mittelmäßige Leistungen vorweisen. Vom Corona-gipfel an diesem Mittwoch muss das Signal ausgehen, dass sie die Prioritäten endlich richtig setzt.
Denn die erneut exponentiell steigenden Infektionszahlen haben Chaos ausgelöst. Binnen weniger Tage färbten sich weite Teile der Deutschlandkarte tiefrot, wurden Städte und Kreise zu Risikogebieten. Das Virus verbreitet sich unkontrolliert, die Zahl von 20.000 Infektionen pro Tag, die Merkel für die Zeit um Weihnachten befürchtet hatte, könnte noch in dieser Woche erreicht werden.
Die meisten Gesundheitsämter überfordert die Lage schon jetzt. Eigentlich müssten die Infektionsketten zurückverfolgt werden, um so eine weitere Verbreitung des Virus einzudämmen. Wäre die Verwaltung einigermaßen auf dem Stand der digitalen Möglichkeiten, hätte sie vielleicht eine Chance. Aber die Corona-warn-app hat sich als weitgehend nutzlos erwiesen, weil sie eben keine Trackingfunktion hat, sondern die Daten anonym verarbeitet. Nun gibt es viele gute Gründe für einen strengen Datenschutz, aber ganz sicher ist er nicht höher zu bewerten als das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit.
Die App-pleite zeigt symptomatisch, wie die Politik in dieser Krise – sagen wir es so freundlich, wie es im Zeugnis stehen würde – unter ihren Möglichkeiten bleibt. Nicht die Absichten sind falsch, sondern die Ausführung. Nicht der Föderalismus ist das Problem, sondern das gockelige Gespreize konkurrierender Ministerpräsidenten. Vor zwei Wochen hatte Merkel entschuldigend eingewandt, „dass wir auch alle vor Herausforderungen stehen, die wir vor einem halben Jahr oder vor sieben oder acht Monaten noch nicht gekannt haben“. Ja sicher, das stimmt.
Bloß: Diese sechs, sieben, acht Monate liegen hinter uns, ohne dass die notwendigen Lehren gezogen worden wären. Dass im März und April Maßnahmen nicht aufeinander abgestimmt waren – geschenkt. Auch waren die schweren Folgen für die Wirtschaft im ersten Anlauf kaum zu vermeiden. Und dass die Schulen ihrer Aufgabe nur sehr begrenzt nachgehen konnten, weil sie organisatorisch und technologisch nicht auf die Pandemie eingestellt waren, ließ sich damals niemandem vorwerfen.
Aber jetzt geht das alles wieder von vorne los. Die Maßnahmen sind immer noch nicht aufeinander abgestimmt. Die Wirtschaft wird mit neuerlichen Lockdown-szenarien erschüttert. Und die Schulen sind keinen Schritt weiter.
Natürlich lässt sich nichts gegen Eigenverantwortung und Improvisation sagen. Der Staat kann und soll nicht versuchen, alles zu regeln. Dass Deutschland relativ gut dasteht, ist tatsächlich zuvorderst das Verdienst der Menschen, die das Beste daraus machen und vernünftig handeln, auch wenn sich einige wie in der Düsseldorfer Altstadt oder in Kölner Szenevierteln nicht daran halten. Die allermeisten feiern keine Partys, sitzen auch ohne Sperrstunde nicht dicht an dicht in Kneipen, tragen Masken, wo es Sinn ergibt, halten Abstand und waschen sich gründlich die Hände. Die Politik aber wird den Erwartungen nicht gerecht.
„Es kann sein, dass wir in zehn oder zwölf Tagen sagen müssen: Wir haben diesen Anstieg nicht so gestoppt, wie wir es wollten“, sagte Merkel vor zwei Wochen voraus. Es werde dann um schärfere Regeln und Kontaktbeschränkungen gehen müssen, kündigte sie an. Aber Regeln, die nicht ausreichend funktioniert haben, weiter zu verschärfen, nützt wenig. Und noch mal in einen flächendeckenden Lockdown zu gehen, brächte die Gesellschaft wirtschaftlich und sozial an ihre Grenzen.
Es muss jetzt darum gehen, gemeinsam verbindliche Kriterien festzulegen, die sich nicht nur auf die Zahl der Infektionen beziehen, sondern auch auf den R-wert, die Intensivbetten und die Todesfälle. Die Inzidenz-abstufungen – 35 beziehungsweise 50 Infektionen auf 100.000 Menschen binnen sieben Tagen – sind dabei offensichtlich nicht ausreichend, da sie weitgehend überschritten wurden. Und die Rückverfolgung der Infektionsketten muss zur obersten Priorität werden, beim Personaleinsatz wie bei den technischen Mitteln.
Innerhalb eines solchen Rahmens wären die Kommunen dann, mit Unterstützung der Länder, in der Lage, Hotspots wirklich in den Griff zu kriegen. Lokal begrenzte, aber vollständige und schnelle Lockdowns müssen zu ihrem gängigen Instrumentarium gehören. Nach Hochzeitsfeiern oder Partys, bei denen erste Corona-fälle verzeichnet werden, müssen sofort alle Teilnehmer in Quarantäne.
Die Gefahr ist real. Dass bisher mehr als 10.000 Menschen in Deutschland an oder mit Corona gestorben sind, lässt sich nicht leugnen. Ja, woanders waren es viel mehr. Ja, viele sterben an anderen Ursachen, die sich ebenfalls längst besser bekämpfen ließen. Ja, viele der Corona-toten hatten ohnehin keine lange Lebenserwartung mehr. Aber solche zynischen Relativierungen haben in einer aufgeklärten, freiheitlichen, menschlichen Gesellschaft keinen Platz.
Je effizienter, präziser und erfolgreicher die Politik die Lage angeht, desto besser wird das Zeugnis sein, das ihr die Menschen ausstellen. Je mehr sie sich dagegen in müßige Debatten verstrickt, desto schneller zieht die Pandemie eine politische Krise nach sich.
Nicht der Föderalismus ist das Problem, sondern das gockelige Gespreize der Ministerpräsidenten