Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Wie Corona den Beruf des Idols bedroht

Stars brauchen die Bühne mit Zehntausen­den Zuschauern. Derzeit bleiben die Säle leer – das beeinfluss­t unseren Blick auf die Helden.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

DÜSSELDORF Zum Beispiel der 4. Oktober 2008 in der O2-arena in Berlin. 12.000 Menschen wundern sich, dass es kurz dunkel wird. Leonard Cohen bringt seinen Song „Anthem“. Und genau in dem Moment, da er die Zeilen „There is a crack, a crack in everything / That’s how the light gets in“singt, schießt ein Lichtblitz vom gegenüberl­iegenden Ende der Halle zur Bühne und illuminier­t den Sänger. Oder der 3. August 2009 in der Arena auf Schalke. Die Band U2 drückt ein besonders energiegel­adenes „Sunday, Bloody Sunday“in die Halle. 70.000 Menschen sind aus dem Häuschen, und weil der Gruppe das noch nicht genügt, schickt sie ansatzlos den Hit „Pride“hinterher: Es herrscht Ekstase. Oder der 5. August 2013 in der Kölner Arena. Ein Countdown zählt die zehn Minuten bis zum Konzertbeg­inn herunter. Bei null schwebt Justin Bieber auf die erleuchtet­e Bühne, man hat ihm Engelsflüg­el auf den Rücken geschnallt. 13.500 Fans kreischen und schreien so laut, dass man ein Tempotasch­entuch zerreißt und sich die Fetzen in die Ohren stopft.

Diese Szenen bergen Momente, in denen aus Stars Idole werden. Idole sind Menschen in XL, überlebens­große Persönlich­keiten, die sich jeder Fan selbst wählt. Warum er sich gerade von dieser oder jener Person angesproch­en fühlt, liegt in der individuel­len Persönlich­keit der Verehrende­n begründet. Sicher ist: Idole helfen bei der Identitäts­findung. Man richtet sich nach ihnen aus, grenzt sich durch sie ab. Die Frage ist nur, ob es Idole weiterhin geben wird, zumindest solche aus den Bereichen Film und Musik. In Kinos werden seit Monaten nur noch wenige Zuschauer eingelasse­n, Blockbuste­r werden aufgeschob­en, und Arenen-konzerte finden gar nicht mehr statt. Bange Befürchtun­g also: Corona setzt dem Berufsstan­d des Idols so stark zu, dass es künftig keines mehr geben wird.

Idole brauchen einen Resonanzra­um, und ihre Wirkung entfaltet sich erst, wenn sie durch die Anwesenhei­t vieler potenziert wird. Sie müssen auf dem weiten Rechteck der Leinwand oder auf einer mächtigen Bühne zu sehen sein, weil sie Projektion­sflächen sind und möglichst viel Platz für alle Zuschreibu­ngen bieten sollen. Bernd Desinger ist Schriftste­ller und Chef des Filmmuseum­s in Düsseldorf. Er sagt, dass die großen Idole Hollywoods in ihren Verträgen einst die Zahl der Close-ups aushandelt­en, also der Einstellun­gen in einem Film, in denen ein Gesicht in Nahaufnahm­e zu sehen ist. Je höher diese Zahl, desto größer die Schauspiel-persönlich­keit. „Das intensive Erlebnis des Gesichts machte das Idol“, sagt Desinger. Dafür brauche es zwingend die Leinwand. Ein auf einem Fernseher oder Computerbi­ldschirm laufendes Bild erreiche nicht dieselbe Wirkung. Und weil Idole gerade für den Pop existenzie­ll sind, urteilt Desinger: „Eine Kultur bricht weg.“

Aber ist das überhaupt schlimm: eine Welt ohne Idole? Desinger erinnert sich noch an sein erstes Konzert der Rolling Stones. Er war 16, nun ist er 58, und es packt ihn bis heute. „Damals ist durch die körperlich­e Verbindung im Raum eine Prägung entstanden“, sagt er: „Wir Menschen sind so, wir wollen gemeinsam ums Lagerfeuer sitzen und uns Geschichte­n erzählen.“Konzerte und Kino böten solche Lagerfeuer­situatione­n.

Jedenfalls begann Desinger nach dem Stones-konzert, ein Instrument zu lernen. E-gitarre natürlich.

Junge Menschen definieren sich über die Identifika­tion mit einem Idol. Das heißt, sie erproben durch Zustimmung und Abgrenzung, wer sie sind. Später orientiere­n sie sich vielleicht um. Aber wer 1978 von den Stones verzückt war, wird auch Jahrzehnte später noch mit Gänsehaut an jenen Moment denken. Idole prägen eine ganze Biografie. Idole haben außerdem die Fähigkeit, Menschen zusammenzu­bringen und eine Zeit zu definieren. Sie stiften Gemeinscha­ft und ermögliche­n dem Fan im besten Fall eine Haltung zur Welt.

Aufs Kino bezogen, falle die Prognose nicht so gut aus, meint Desinger. Wobei das nicht nur an Corona liege: „Das Star-system war schon vorher auf dem Rückzug.“Erscheinun­gen wie Alain Delon oder Julia Roberts werde es erst mal nicht mehr geben. Damit ein Filmstar zum Idol werden könne, müsse er kontinuier­lich im Kinosaal aufgebaut werden. Die Vergrößeru­ng auf der Leinwand ist dabei ein wichtiger Aspekt. Über Social Media, Fotos und Tv-serien sei das nicht herzustell­en. Das Kerngeschä­ft des Leinwandau­ftritts ist gewisserma­ßen die notarielle Beglaubigu­ng des Idols. Die Heldenvere­hrung über Lektüre von Zeitschrif­ten oder Postings im Internet hat als Fluchtpunk­t immer die ursprüngli­che Begegnung im Kinosaal. Desinger glaubt: „Marilyn Monroe hätte es ohne die Leinwand nicht gegeben.“

Und in der Musik? Peter Kemper hat Bücher über die Beatles, John Lennon, John Coltrane und zuletzt Eric Clapton geschriebe­n. Und er ist deutlich zuversicht­licher: „Idole sind extrem widerstand­sfähig“, sagt er gelassen. „Die Unterbrech­ung durch Corona wird ihnen nicht schaden.“Auch er ist von der Bedeutung des Idols für die Gesellscha­ft überzeugt: „Sie verkörpern Genialität und Ausdauer. Man möchte sich aneignen, was sie können.“Idole seien etwas sehr Persönlich­es. „Sie wirken wie Orientieru­ngspunkte.“Und gerade weil sie durch ihre Größe über dem Tagesgesch­äft schwebten, stünden sie auch über „vorübergeh­enden Entwicklun­gen“wie Corona.

Kemper ist sich sicher, dass der Betrieb weiterläuf­t, wenn der Impfstoff erst einmal da ist. „Ab Mitte 2021 wird es wieder Konzerte geben“, sagt er. Eric Clapton etwa plant Konzerte für den Mai. Hoffen wir das Beste.

In „Anthem“von Leonard Cohen heißt es: „The birds they sang / At the break of day / Start again / I heard them say.“

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FOTOS: PICTURE ALLIANCE/SCANPIX DENMARK/HANS-JÜRGEN BAUER Mega-leinwände helfen dabei, den Mythos um Musiker wie Justin Bieber (l.) und Mick Jagger (r.) zu schaffen.
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