Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Zeitenwende: Neuss ist rot!
Das ist neu, das gab’s noch nie: Neuss hat erstmals einen sozialdemokratischen Bürgermeister und eine Spd-geführte Ratsmehrheit.
NEUSS Der Altmeister wittert die Gefahr. Heinz Günther Hüsch, mehr als 50 Jahre ein Fixstern der Neusser CDU, spürt, dass seine Partei jetzt Zuspruch braucht. Zu sehr taumelt sie nach der Wahlniederlage vom 13. September. Ihr drohen auf Sicht magere Jahre. So meldet sich der 91-Jährige aus dem politischen Ruhestand zu Wort. Die neue Oppositionsrolle sei so neu nicht, tröstet Hüsch, schon von 1956 bis 1960 habe eine Spd-geführte Mehrheit im Rat das Sagen gehabt, die ihren Favoriten Günther Kuhnt zum Oberstadtdirektor wählte. Die CDU habe aber die Zeitspanne genutzt, um ihr Profil zu schärfen, und errang 1960 eindrucksvoll die Mehrheit zurück. Hüschs Botschaft, die Mut machen soll: „Kann wieder so werden!“
Was Hüsch verschweigt: Damals saß mit Alfons Frings ein starker CDU-MANN auf dem Sessel des Oberbürgermeisters. Das macht den Unterschied zu heute. Denn neben der Ratsmehrheit „Rot-grün plus“– SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Uwg/aktiv für Neuss – ist jetzt auch noch der Sozialdemokrat Reiner Breuer (51), soeben von den Neussern eindrucksvoll im Amt bestätigt, der Rathaus-chef. Der kann nun mit eigener Hausmacht erstmals „durchregieren“und wird erlebbar machen: Neuss ist rot!
Breuers Wahl als erster Sozialdemokrat zum Stadtoberhaupt mag 2015 historisch gewesen sein, die Ergebnisse vom 13. September 2020 sind tiefgreifender: Sie künden von einer Zeitenwende. Im Maschinenraum dieses Erfolges sitzt Sascha Karbowiak (33). Der Spd-vorarbeiter führt die goldene Generation seiner Partei an, die vermutlich am Anfang eines (oder mehrerer) goldenen Jahrzehnts steht.
Den bevorstehenden Paradigmenwechsel in der Neusser Politik nennt Bürgermeister Breuer eine „sozial-ökologische Erneuerung“. Was sie darunter verstehen, erklären die Grünen: weniger Gewerbe- und Baugebiete. Aus für das interkommunale Gewerbegebiet Silbersee, Aus für das Neubaugebiet Norfer Friedhof; in Grimlinghausen Südost und Am schwarzen Graben wird kleiner geplant. Die Grüne Ingeborg Arndt zieht die rote Karte: „Bis 2025 werden keine weiteren Wohnbaugebiete entwickelt.“Ob das so rigoros mit Realpolitikern wie Reiner Breuer, Arno Jansen und Sascha Karbowiak machbar sein wird, die vehement mehr bezahlbaren Wohnraum forderten, darf getrost bezweifelt werden – aber die Richtung ist dennoch klar: Für „Rot-grün plus“ist beim Flächenverbrauch weniger mehr.
Die von Bürgermeister Breuer angestrebte „neue Mobilität“, ein weiteres zentrales Thema, benennt Roland Kehl (Grüne) konkret: die Achse Sebastianusstraße/glockhammer wird autofrei, eine erste echte Fahrradstraße kommt und mehr Tempo-30-zonen. Die Mobilitätswende genießt auch höchste Spd-priorität: Umsteigen auf Bus und Bahn, Radverkehr fördern. Der Politikwechsel unter dem Stichwort „sozial-ökologische Erneuerung“wird sich in weiteren Politikfeldern zeigen: Bildung und Schule, Jugend und Soziales, Sport und Kultur. Die Landesgartenschau in Neuss erhält jetzt womöglich früher eine Chance als gedacht, das Klimaschutzkonzept in überarbeiteter Form ebenso.
Die To-do-liste von „Rot-grün plus“nimmt Gestalt an. Es ist jetzt an der CDU in ihrer neuen Oppositionsrolle einen kritisch-konstruktiven Ansatz zu finden. Nein sagen ist einfach, gute Alternativen zu entwickeln schwierig. Da die mit sich selbst beschäftigte CDU (noch?) ausfällt, bezieht stattdessen die IHK Mittlerer Niederrhein Position. Die betont, dass neue Gewerbeflächen für die Entwicklung des Wirtschaftsstandorts Neuss und den Erhalt des Wohlstands enorm wichtig seien. Daher bedauert sie auch, dass das Gewerbegebiet Silbersee auf der Neusser Seite infrage gestellt wird. „Es erweckt überregionale Aufmerksamkeit.“Pikant: Wortführer der Kammer als „außerparlamentarischer Opposition“ist deren Hauptgeschäftsführer Jürgen Steinmetz. Er wurde vor fünf Jahren als Bürgermeister-kandidat in Neuss gehandelt. Mächtige
Cdu-granden wollten ihn nicht. Das Ergebnis ist bekannt.
Neuss ist rot. Damit der Politikwechsel gelingt, werden die Koalitionäre überall dort, wo sinnvoll und möglich, das Personal wechseln. Sie halten die Ratsmehrheit, sie werden den ersten Zugriff auf den Vorsitz in den Ausschüssen haben. Mehr noch: Sie werden viele Chefsessel in den Aufsichtsgremien
der städtischen Töchter übernehmen. Der „Big Point“sind dabei die Stadtwerke, wo mit Elisabeth Heyers (Konzern), Jörg Geerlings (Energie + Wasser) und Rolf Knipprath (Neusser Bäder und Eissporthalle Gmbh) gleich drei Cdu’ler Chefkontrolleure sind.
Personelle Wechsel müssen nicht, können aber strategische Neuausrichtungen zur Folge haben. Stichwort: Gewinnabführung. Bisher verblieben die Stadtwerke-gewinne mit wenigen Ausnahmen im Unternehmen, um die Finanzkraft zu stärken – auch für Investitionen. Denkbar, dass in Zeiten klammer Kassen künftig „Rot-grün plus“mehr Geld von der städtischen Tochter zur Finanzierung des Haushalts abruft.
Zweites Beispiel für ein Feld, auf dem personelle Veränderungen anstehen: der Beigeordneten-flur im Rathaus. Von den aktuell sechs Wahlbeamten wurden vier auf Vorschlag der CDU gewählt. Kämmerer Frank Gensler, Christoph Hölters, Ralf Hörsken und Christiane Zangs. Hinzu kommen Holger Lachmann (SPD) und Matthias Welpmann (Grüne). In der neuen Wahlperiode laufen gleich drei Zeiten ab. Den Anfang macht Christiane Zangs (Schule, Bildung, Kultur), die im
Sommer 2023 die Altersgrenze erreicht. Tipp: Die Stelle wird eingespart, die Aufgaben verteilt. Es folgt Matthias Welpmann (Umwelt, Klima, Sport), dessen Amtszeit im August 2023 endet. Tipp: Ob Wiederwahl oder Neuausschreibung, die Stelle wird auf Vorschlag der Grünen besetzt. Schließlich Ralf Hörsken ( Jugend, Integration, Soziales) dessen Amtszeit noch bis Ende April 2024 geht. Tipp: Für den Sozialbereich werden sich die Sozialdemokraten das Vorschlagsrecht nicht nehmen lassen. The winner takes it all? Die CDU handelte oft nach diesem Gesetz. Jetzt hofft sie auf mehr Wir. Vielleicht nicht vergeblich. Bürgermeister und SPD sprechen von Teilhabe der Opposition. Folgen Taten, könnte die „Fraktion Neuss“für neues Denken stehen. Der Bürger würde es vermutlich danken.
Am Ende der Wahlperiode wird die CDU nur noch zwei Beigeordnete im Rathaus antreffen, die auf ihrem Ticket gewählt wurden. Die SPD wird dann ebenfalls zwei vorgeschlagen haben und die Grünen einen. Hört sich ausgewogen und gerecht an, bedeutet aber einen Macht- und Einflussrückgang für die CDU – entsprechend ihren kontinuierlichen Stimmverlusten bei den Wahlen. Weniger Stadtverordnete, weniger Ausschussvorsitzende, weniger Aufsichsratschefs, weniger Rathaus-manager – die CDU in der Abwärtsspirale. Je weniger weichenstellende Positionen die CDU mit eigenen Leuten besetzen kann, um so weniger sind Cdu-politiker gefragt, wenn Dritte Ansprechpartner suchen. Der Bedeutungsverlust der CDU schreitet voran. Er wird verstärkt durch soziodemografische Veränderungen. Neuss wächst, wird bunter. Junge Familien ziehen zu. Die Kirchen verlieren an Bindungskraft, die Schützen können Neu-bürger selten integrieren.
Neuss erlebt seine politische Zeitenwende. Kein Grund auszuwandern. Demokratie lebt vom Wechsel. Die CDU lernt nun Opposition. Der Rolle wird sie umso schneller gerecht werden, je eher sie sich ehrlich eingesteht, dass sie die Wahl verloren hat und sich mit Demut an die Aufbauarbeit macht. Wie das geht?
Demokratie wächst von unten. Der Bürger hat ein sicheres Gespür dafür, wer ein offenes Ohr und zupackende Hände für ihn hat. Hüsch war so ein Politiker. Er konnte nach Innen führen und wusste immer, was sein öffentlicher Auftrag war: „Unser Mandat ist ein Ehrenamt für den Bürger.“Ein Besuch beim Altmeister lohnt immer – gerade auch für Christdemokraten, die lernen müssen, dass Politik für Bürger und nicht für Parteien gemacht wird.
„Kann wieder so werden!“Heinz Günther Hüsch Der 91-jährige Cdu-politiker setzt angesichts der Oppositionsbank für seine Partei auf das Prinzip Hoffnung.