Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Mitten ins Wiener Herz
Dutzende Schüsse schlagen in einem belebten Ausgehviertel ein, gerade als die Menschen die letzten Stunden vor dem Corona-lockdown genießen.
WIEN (dpa) Der unscheinbare Steinbrocken auf dem Boden zeugt von der blutigen Spur des Terrors. Ein Schuss hat ihn aus dem Türrahmen einer Stuckfassade am Wiener Salzgries gesprengt. Das angrenzende kleine Labyrinth von Gassen voller Kneipen, das die Wiener Bermudadreieck nennen, ist am Dienstag abgesperrt. Jeden Zugang bewachen Polizisten. Vor der Hauptsynagoge in der Seitenstettengasse nahm die Terrornacht von Wien ihren Ausgang. Ein Mann feuerte laut Zeugen am Montagabend gegen 20 Uhr wahllos in die Lokale, zieht danach weiter durch die Straßen. „Plötzlich fielen Schüsse, erst so 20, dann acht und dann wieder 20“, schildert ein Augenzeuge gegenüber der Nachrichtenagentur APA. Er habe das Geschehen anfangs nicht einordnen können: „Wer denkt denn in
Wien an einen Anschlag?“Mindestens vier Menschen werden tödlich getroffen, über ein Dutzend sind teils schwer verletzt. Um 20.09 Uhr erschießt ein Polizist den Attentäter. Die Stadt geht in den Ausnahmezustand.
Ausgerechnet an einem milden Abend in den letzten Stunden vor dem zweiten Corona-lockdown in Österreich, ausgerechnet in der Ausgehmeile zwischen Wiens historischer Altstadt und dem Donaukanal – der Attentäter hätte kaum einen belebteren Ort finden können. Die Terrassen der Lokale sind voll, scharenweise stehen die Menschen an so einem Abend um die Würstelstände am Verkehrsknoten Schwedenplatz. Plötzlich ist alles vorbei. An einem der U-bahn-eingänge sackt auf einem Augenzeugenvideo ein Mann zusammen, von Schüssen getroffen. Das Bild einer Blutlache vor einem Lokal prangt am Dienstag auf den Titelseiten gleich mehrerer Boulevardblätter.
„Wir sind losgerannt“, sagt eine 30-Jährige, die am Montagabend nur ein paar Gassen entfernt mit Freunden vor einer Bar saß. Am Dienstagvormittag sitzt sie etwas verloren auf der Bank einer fast ausgestorbenen Einkaufsstraße und isst Fast Food – „das mache ich immer, wenn ich Stress fühle“. Die Kellnerin habe kassieren wollen, weil etwas passiert sei, erzählt sie. Dann, so berichtet sie, wurde es laut, Polizisten riefen den Gästen zu, die Straßen zu verlassen. Im Chaos habe sie ein Mann in ein Bürogebäude
gewunken, etwa zu zehnt harrten sie dort bis in die frühen Morgenstunden aus.
Am Morgen sind nur wenige Passanten unterwegs, im ersten Bezirk Wiens herrscht überhaupt große Stille. „Bleiben Sie zu Hause, die Gefahr ist noch nicht gebannt“, schärften der Bundeskanzler und der Wiener Bürgermeister in der Nacht ein. Einsatzkräfte der Militärpolizei stehen in den Gassen, schwer bewaffnete Polizisten auf dem großen leeren Platz vor dem Stephansdom. Verschiedensprachige Nachrichtencrews warten auf ihren Einsatz.
„Schockiert sind wir, es ist eine völlige Katastrophe“, sagt ein ruft ein Wiener aus seinem Auto dem schießenden Attentäter hinterher, die Szene wird auf Video festgehalten 45-Jähriger. Am Dienstagmorgen will er in seinem Lokal nach dem Rechten schauen, das nun wegen des Corona-lockdowns geschlossen hat. Am Abend harrten auch bei ihm etwa 35 Gäste mit Kellnern bis um 2 Uhr morgens aus, wie er sagt. „Wir alle wollten doch noch ein bisschen Freiheit vor dem Lockdown genießen“, sagte eine 60-Jährige auf dem Weg ins Büro. Angst habe sie nicht. „Es kann überall passieren, damit muss man rechnen“, sagt sie. „Ich habe den Eindruck, dass das Innenministerium und die Polizei das gut im Griff haben.“
Trotz aller Fassungslosigkeit reagiert die Stadt auf ihre eigene Art und Weise. „Schleich di, du Oarschloch“, rief ein Wiener aus seinem Fenster dem schießenden Attentäter hinterher. Der Moment, auf Video eingefangen, ging viral als Symbol
für die Widerstandsfähigkeit der Stadt. Ein anderer Mann soll einem Terroristen eine Vase nachgeworfen haben. Die am Abend vor dem Lockdown bei letzten Aufführungen besonders voll besetzten Kulturhäuser gingen ebenfalls stoisch mit der Lage um. Star-percussionist Martin Grubinger, der vor rund 1000 Menschen im Konzerthaus spielte, erhielt schon früh während seines Auftritts Informationen der Polizei über die Anschläge. Die Beamten baten ihn weiterzuspielen, um so die Besucher so lange wie möglich abzulenken. Grubinger und das Orchester gaben extra lange Zugaben, erst dann wurden die Besucher informiert. Auch die Wiener Philharmoniker spielten nach ihrer Aufführung für die eingeschlossenen Besucher der Wiener Oper, bevor sie sicher nach Hause gehen konnten.
„Schleich di, du Oarschloch“