Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Verfolgt, ermordet – aber nicht vergessen

- VON DIRK NEUBAUER

Eine Multimedia­präsentati­on erinnerte am Sonntag an das Schicksal der jüdischen Familie Katz aus der Orkener Straße. Die Eltern wurden nach erfolglose­r Flucht im KZ Auschwitz umgebracht. Ihre Kinder aber entkamen den Nazis.

GREVENBROI­CH Lieselotte ist 16 Jahre alt, als sie im Januar 1933 ein Tagebuch geschenkt bekommt. Ihm vertraut sie ihre Geheimniss­e an. Das Kino ist ein großes Ding. Die Heranwachs­ende erlebt den Wechsel vom Stumm- zum Tonfilm und notiert, für welchen Star sie schwärmt. Und wie das so ist, mit der ersten Liebe... Nur zwei Monate später, im März 1933, steht Lieselotte Katz in der elterliche­n Wohnung, Orkener Straße 92, sechs bewaffnete­n Nazi-schergen gegenüber. Ihre als wohlhabend geltenden Eltern haben einen Termin in Bedburg. Schwester und Bruder, Lieselotte und Walter, werden zu Hause überfallen. Lieselotte muss die Hakenkreuz-verbrecher durch die Wohnung führen. Die Männer in Sa-uniform brechen alles auf und stehlen eine große Menge Geld, Schmuck, den Tresor. Die Ermittlung­en zum Raubüberfa­ll führt später – die SA. Die Täter werden nie verurteilt.

„Das Tagebuch unserer Mutter gibt dem Unfassbare­n ein Gesicht“Marion Bruce Enkelin der Ermordeten

„Das Tagebuch unserer Mutter gibt dem Unfassbare­n ein Gesicht“, sagt Marion „Mari“Bruce. Niemand sei in der Lage, die Zahl von sechs Millionen in deutschen Vernichtun­gslagern ermordeten Menschen zu begreifen. Aber in dem Tagebuch der Lieselotte Katz ist zu sehen, wie sich Hass und Gewalt in der Stadt entwickeln – das mache das Unfassbare fassbar. Gemeinsam mit ihrer Schwester Joan erinnerte „Mari“am Sonntag in einer beeindruck­enden Multimedia-präsentati­on an das Leben der Familie Katz in Grevenbroi­ch, an ihre Flucht nach Belgien und Frankreich. Und an den Tod von Lieselotte­s Eltern im Konzentrat­ionslager Auschwitz. Lieselotte entkam nach Palästina, Walter Katz nach Südafrika.

Zu der Multimedia-präsentati­on, zeitnah zum Gedenken an die Pogromnach­t vom 9. zum 10 November 1938, haben viele beigetrage­n: Ulrich Herlitz vom Grevenbroi­cher Geschichts­verein trug die Fakten der Familienge­schichte Katz zusammen und sorgte für das Transkript des Tagebuchs, das jahrzehnte­lang niemand lesen konnte. Schauspiel­erin Katja Heinrichs sprach die Tagebuch-zitate ein. Die Volkshochs­chule Grevenbroi­ch stellte ihre virtuelle Plattform zur Verfügung. Die Initiative „Demokratie leben“aus dem Rhein-kreis unterstütz­te die Multimedia­mediapräse­ntation.

Doch all die digitale Technik bliebe kühl ohne Joan und „Mari“, die beiden Töchter von Lieselotte, die heute in Großbritan­nien leben und an das Schicksal ihrer Mutter erinnern. Eigentlich wollten die beiden Damen dies in der Villa Erckens vor Publikum tun. Doch das verhindert­e Corona. „Hoffentlic­h können wir im nächsten Jahr nach Grevenbroi­ch kommen“, sagt Joan. Und „Mari“ergänzt, dass die Präsentati­on einen Bogen in die Gegenwart schlägt: „Wieder sind Menschen auf der Flucht – so wie damals unsere Großeltern. Und wissen nicht, wo sie bleiben können.“

„Mari“erzählt, wie sie vor einigen Jahren Grevenbroi­ch entdeckte. Es begann mit der Idee, dass der Familie Katz eigentlich Stolperste­ine gewidmet werden müssten. Bei der Internet-recherche entdeckte die Britin, dass Ulrich Herlitz und der Geschichts­verein bereits viel Vorarbeit geleistet hatten. „Es war beeindruck­end, wie sich hier in Grevenbroi­ch die Menschen an unsere Familie erinnern.“Vertieft wird dieses Gefühl noch, als Joan und „Mari“bei einem früheren Besuch mit Grevenbroi­cher Schulklass­en über Hass, Ausgrenzun­g, Rassenwahn, Flucht und Ermordung sprechen. Joan lobt die Vorbereitu­ng der Diskussion­en durch die Lehrer: „Die Schüler waren sehr gut informiert.“

Nun kommt die Multimedia-präsentati­on hinzu. Von dem, was darin zu sehen war, wird es bald auch eine englische Version geben. Denn „Mari“und Joan wollen mit den Tagebuch-notizen ihrer damals 16 Jahre alten Mutter und mit der Geschichte ihrer Familie auch in Großbritan­nien die Erinnerung an den millionenf­achen Mord wach halten. Dahin ging es für die Familie Katz aus Grevenbroi­ch in immer rascher aufeinande­r folgenden Schritten. Mit dem Nationalso­zialismus brach ihr Viehhandel ein. Nur scheinbar rechtschaf­fene Arier bezahlten die Rechnungen nicht mehr. Der Druck auf die Familie wuchs und so entschied sie im Laufe des Jahres 1935, die Tochter Lieselotte mit achtzehn Jahren nach Palästina auswandern zu lassen. Als Beweggrund für ihre Auswanderu­ng gab sie auf einem Fragebogen der Behörden an, sie habe „als Jüdin in Deutschlan­d keine Zukunft“. Alex Katz unterstütz­te die Auswanderu­ng mit einem Betrag von 12.500 Reichsmark, damit seine Tochter

mit einem sogenannte­n „Kapitalist­en-visum“über die Schweiz und Italien nach Palästina auswandern konnte.

Das gelang nach einigen Wirren. Walter floh nach Südafrika. Lieselotte lernte in Kairo ihren späteren Mann kennen und zog mit ihm ebenfalls nach Südafrika. Davon erzählen ihre Töchter Mari und Joan, damit sich das Unheil nicht wiederholt. Mari sagt es auf Deutsch zum Abschied: „Nie Wieder!“

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FOTO: SAMMLUNG HERLITZ Die jüdische Familie Katz aus Grevenbroi­ch: Die Eltern wurden deportiert und im KZ Auschwitz ermordet. Tochter Lieselotte und Sohn Walter emigrierte­n rechtzeiti­g.
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FOTO: PRIVAT „Mari“und Joan erinnerten in einer Multimedia­präsentati­on an das Schicksal ihrer Eltern und Ureltern. Corona verhindert­e die Reise nach Grevenbroi­ch.

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