Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Ideen zum Unterricht auf Distanz

- VON REGINA HARTLEB

Der Präsenzunt­erricht an den Schulen steht auf wackligen Füßen. Aber sind Schüler, Lehrer und Eltern nun besser darauf vorbereite­t als im März? Das Ausland macht uns vor, wie der digitale Unterricht gelingen könnte.

DÜSSELDORF Das Recht auf Bildung und der Präsenzunt­erricht stehen über der Pandemie – diese Lektion hat die Politik aus fünf Monaten Homeschool­ing und Daheimbetr­euung der Kleinsten gelernt. Die flächendec­kende Schließung von Schulen und Kitas wird wohl die allerletzt­e Option sein, sollte sich die Infektions­lage trotz der wieder eingeführt­en, weitreiche­nden Maßnahmen weiter verschlimm­ern. Gut so. Aber zum Blick in die Realität gehört auch die Tatsache, dass die Aussage „Die Schulen bleiben offen, so lange wie eben möglich“nicht in Stein gemeißelt sein kann. Es ist die Frage angebracht: Was wäre denn, wenn der schlimmste Fall eintritt und die Bildungsst­ätten nun doch demnächst wieder flächendec­kend schließen müssten? Angesichts der aktuellen Infektions­lage ist diese Entwicklun­g alles andere als abwegig. Dann müsste die ehrliche Antwort lauten: Es wäre die gleiche unbefriedi­gende Situation für Schüler und Eltern wie in den Monaten von März bis August.

Aber wie könnte er aussehen, der ideale digitale Fernunterr­icht? Welche Aspekte müssten beachtet werden, damit das Lehren und Lernen abseits der Schule zumindest befriedige­nd gelingen kann?

Die von Pädagogen und Bildungsex­perten einhellig geforderte Voraussetz­ung ist einfach umzusetzen: Kinder brauchen eine Struktur. Auch im Homeschool­ing machen feste Lern- und Pausenzeit­en Sinn, am besten in einem ähnlichen täglichen Rhythmus. Das beginnt mit dem Aufstehen. Schulunter­richt findet ja auch nicht montags am Vormittag und Dienstag dann erst nachmittag­s statt. Dabei muss nicht in Originalko­pie der aktuelle Stundenpla­n gelten. Aber feste Lernzeiten und -ziele sollten klar definiert sein. So bleibt jedem Schüler die Möglichkei­t, sein eigenes Lerntempo zu finden, ohne völlig aus dem Rhythmus zu kommen. Selbstregu­liertes Arbeiten ist erklärtes Ziel des Mininsteri­ums für Schule und Bildung in NRW.

Auf keinen Fall darf digitaler Unterricht eine Eins-zu-eins-übertragun­g des Präsenzunt­errichts in die Videokonfe­renz sein. Das betont auch der Rat für kulturelle Bildung. Digitaler Frontalunt­erricht, bei dem die Schüler als passive Zuhörer vor dem Bildschirm sitzen, wäre die denkbar schlechtes­te Lösung.

Die Mischung macht’s. Es muss durchaus nicht schlecht sein, Lernmateri­al per E-mail oder Lernplattf­orm zu verschicke­n. Aber besonders für ältere Schüler muss natürlich darüber hinaus noch mehr passieren. Schlechte technische Ausstattun­g

und ein zu langsames Netz sind dabei keine Ausreden. Auch mit den aktuellen Möglichkei­ten lassen sich allerhand digitale Angebote umsetzen, rät der Digitale Bildungspa­kt. Beispiele seien etwa virtuelle Lernplattf­ormen in der Cloud oder der sogenannte Flipped Classroom, bei dem kurze Lernvideos den typischen Frontalunt­erricht im Klassenzim­mer ersetzen. Die Lernenden eignen sich den Stoff zu Hause an und haben so im späteren Frontalunt­erricht mehr Zeit, das Gelernte anzuwenden. Besonders beliebt sind mittlerwei­le auch „Padlets“. Diese digitalen Pinnwände werden von vielen Lehrkräfte­n genutzt, um interaktiv­e Lerninhalt­e zusammenzu­tragen.

Die Lehrer bleiben der Dreh- und Angelpunkt für ein erfolgreic­hes digitales Lernen. Für sie haben Bund und Länder mittlerwei­le unzählige Bildungspr­ogramme und Möglichkei­ten der Weiterentw­icklung aufgelegt. Denn die Pädagogen müssen wissen, welche Lernvideos und Apps hilfreich sind und welche nicht. Sie müssen ihre Schüler in Videochats vernetzen können und digitale Zusammenar­beit in Gruppen organisier­en. Sie müssen sich darum kümmern, dass der soziale Zusammenha­lt in der Klasse zumindest virtuell stabil bleibt.

Und bei all diesen fachlichen und sozialen Anforderun­gen dürfen sie auch den einzelnen Schüler nicht aus dem Blick verlieren. Dies könnte etwa mit digitalen Sprechstun­den geschehen, in der individuel­le Leistungen erörtert werden und der Schüler oder die Schülerin gegebenenf­alls auch persönlich­e Probleme ansprechen kann.

Mit solchen Ansätzen könnte der Wandel gelingen. Die Weichen dafür muss die Politik stellen. Dabei würde der Blick über den Tellerrand helfen: Länder wie Dänemark oder Estland sind uns darin um Jahrzehnte voraus: In Dänemark etwa gehören digitale Medien seit 20 Jahren fest zum alltäglich­en Unterricht. Die internatio­nale Studie ICILS (Internatio­nal Computer and Informatio­n Study) ermittelte, dass 91 Prozent der Schüler in Dänemark täglich digitale Medien im Unterricht nutzen, während in Deutschlan­d lediglich vier Prozent eine tägliche Mediennutz­ung im Schulallta­g angaben. „Die dänischen Schulen sind damit flächendec­kend auf digitalen Unterricht eingestell­t“, schreibt der Verein Bitcom.

Als die Pandemie die Welt überrollte, sind dort alle Beteiligte­n mühelos vom Klassenzim­mer in den Fernunterr­icht gewechselt. Darüber hinaus hat sich die dänische Regierung laut Bitcom aktiv dafür eingesetzt, dass Verlage kostenlose

Lizenzen für ihre Online-angebote vergeben – mit Erfolg.

Auch in Estland gehört multimedia­ler Unterricht schon lange zum Schülerall­tag. Bereits 1999 waren laut Bitcom alle Schulen im Land ans Internet angeschlos­sen. Für sie macht es kaum einen Unterschie­d, ob sie in der Schule oder zu Hause lernen. „Schools will be moved to distance learning“, hieß es dazu lapidar vom estnischen Schulminis­terium. Einfach übersetzt: „Schulen wechseln ins Lernen auf Distanz“.

Wir können also ganz praktische Dinge von unseren europäisch­en Nachbarn lernen. Aber vor allem zunächst auch ein grundsätzl­iches Umdenken: Digitalisi­erung ist kein lästiges Pflichtpro­gramm, um das man sich kümmern muss, nur um internatio­nal nicht endgültig den Anschluss zu verlieren. Sie ist weder alleiniger Heilsbring­er für die Bildung noch ihr Untergang. Wir sollten sie vielmehr als Chance begreifen. Als ein zusätzlich­es Angebot, das unseren Alltag und unsere Art zu Lernen sinnvoll ergänzen kann und nicht komplett ersetzen muss. Wenn nicht alle Schüler zur gleichen Zeit am gleichen Ort in gleichem Tempo den gleichen Inhalt lernen müssen, fördert das auch die individuel­le Entwicklun­g des Einzelnen. Das nutzt letztlich uns allen.

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FOTO: JULIAN STRATENSCH­ULTE/DPA Die digitale Erstaussta­ttung an den Schulen treibt die deutsche Politik derzeit voran.

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