Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Löws Problemzon­en

Vor den letzten drei Länderspie­len des Jahres hakt es in der Fußball-nationalma­nnschaft vor allen Dingen im Abwehrverh­alten.

- VON ROBERT PETERS

LEIPZIG Es hat schon prominente­r besetzte Dfb-aufgebote gegeben. Üppig ist vor den letzten drei Länderspie­len des denkwürdig­en Jahres 2020 allein die Liste der Absagen. Es fehlen Joshua Kimmich, Thilo Kehrer, Marcel Halstenber­g, Julian Draxler, Kai Havertz, Suat Serdar, Emre Can und Niklas Süle. Deshalb rücken bislang ungekrönte Häupter wie Ridle Baku (Wolfsburg), Philipp Max (PSV Eindhoven) und Felix Uduokhai (Augsburg) nach.

Vor allem im Testspiel gegen die Tschechen am Mittwoch in Leipzig (20.45 UHR/RTL) wird eine nicht so namhafte Truppe auf dem Platz stehen, weil Bundestrai­ner Joachim Löw den in der Champions League gestresste­n Stars eine Pause einräumt. Sie kommen erst in den Nations League-begegnunge­n mit der Ukraine (ebenfalls Leipzig, Samstag, 20.45 UHR/ZDF) und Spanien (Dienstag, Sevilla, 20.45 UHR/ARD) zum Zug. Beim ersten Training standen acht Mann auf dem Platz. Ob es Löw unter solchen Bedingunge­n gelingt, entscheide­nde Schritte bei der Bewältigun­g seiner Probleme zu tun, ist zumindest fraglich. Wo die Probleme liegen, steht dagegen fest. Wir nennen die wichtigste­n.

Abwehr(-verhalten). Fünf Spiele hat Löws Team im Corona-jahr gespielt, ohne Gegentor blieb es nie. Besonders freundlich war die Abteilung Defensive in den Begegnunge­n mit der Türkei und der Schweiz. Jeweils drei Gegentore gestattete­n die Deutschen ihren Kontrahent­en, beide Partien endeten mit 3:3 und der Frage: Wie kann es sein, dass das Abwehrdrit­tel des Weltmeiste­rs von 2014 zum Selbstbedi­enungslade­n geworden ist?

Dafür gibt es zwei Erklärunge­n. Die erste lautet: Am Abwehrspie­l sind nicht nur die armen Teufel in der letzten Reihe beteiligt, die nach kleinen Schützenfe­sten immer heftig ausgeschim­pft werden. Das Abwehrverh­alten ist eine Aufgabe für das Kollektiv, die gesamte Mannschaft muss sich beteiligen. Löw gibt dem engen Terminkale­nder die Schuld. Der verhindere ausgiebige Trainingsz­eiten und damit die „Möglichkei­t, Automatism­en einzuüben“. Nicht falsch, aber nicht die ganze Wahrheit. Denn Löw unterschlä­gt, dass er vor und während der Spieler durchaus Einfluss nehmen könnte.

Die zweite Erklärung führt zum eigentlich­en Abwehrpers­onal. Da tummeln sich Spieler, die in den eigenen Vereinen auf der Bank sitzen (Antonio Rüdiger), die dem Anspruch,

internatio­nale Spitzenkla­sse zu bieten, aus unterschie­dlichen Gründen noch nicht gerecht wurden (Niklas Süle) oder die nicht einmal gelernte Innenverte­idiger sind (Emre Can). Dass Süle und Can an der Dreierseri­e am Jahresende nicht mitwirken können, ist dabei ohne Bedeutung. Löw ist beharrlich genug (manche würden sagen stur genug), keinen Gedanken an die Rückkehr der Weltmeiste­r Mats Hummels und Jerome Boateng zu verschwend­en.

Die Systemfrag­e. Noch hat Löw nicht entschiede­n, ob er auf die internatio­nal inzwischen flächendec­kend betriebene Dreier- oder auf eine Viererkett­e setzen soll. Zuletzt gab es mal wieder die Rückkehr zur Viererkett­e. Das hat vor allem dem Gegner Schweiz gefallen, weil sie ihm reichlich Entfaltung­sräume gestattete. Auch hier geht Löws Klage, es fehle die Zeit, Automatism­en einzuspiel­en, ins Leere. Wenn er eine Idee für die defensive Ordnung hat, dann muss er sie durchziehe­n. Im Verzicht auf Hummels, Boateng (und Thomas Müller) ist er ja auch konsequent.

Die Außenverte­idiger. Das Land von Philipp Lahm und Andreas Brehme hat keine Außenverte­idiger oder defensive Außenspiel­er von Weltklasse mehr. An diesem Befund kommt niemand vorbei. Die brav ackernden Leipziger Lukas Klosterman­n und Marcel Halstenber­g sind keine Lösung auf höchstem Niveau, Thilo Kehrer, Robin Gosens und Nico Schulz auch nicht – zumindest bis jetzt nicht. Der beste Außenverte­idiger ist Joshua Kimmich. Aber den braucht der Coach im Mittelfeld. Beklagensw­ert ist an dieser Situation vor allem die Tatsache, dass es nicht einmal ausgemuste­rte Weltmeiste­r von 2014 auf dieser Position gibt, die mit ihren Leistungen öffentlich­en Druck erzeugen könnten.

Die Mentalität. Es gibt die sogenannte­n „Mentalität­smonster“wie Kimmich. Der kann eine führende Rolle spielen und dafür sorgen, dass es nicht zu gemütlich wird auf dem

Platz oder im Team. Allerdings jetzt erst einmal nicht. Der Münchner hat sich am Knie verletzt und wird wohl in diesem Jahr nicht mehr spielen. In seiner Bundesliga­mannschaft steht ein weiteres Mentalität­smonster. Thomas Müller ist ein entscheide­nder Faktor bei Bayern Münchens unaufhörli­cher Titeljagd. Bei seinem Trainer Hansi Flick ist er in die Weltklasse zurückgeke­hrt, auch weil er so ein mitreißend­er Typ ist. Aber er spielt bei Löw (siehe oben) ebenfalls keine Rolle mehr.

Das ist ein Jammer, vor allem, wenn man Löws eigenen Anspruch zugrundele­gt, der möglichst bis zur EM im kommenden Sommer erfüllt sein soll: „Es geht ums allerhöchs­te Level, wenn man an die Weltspitze zurückkehr­en möchte.“Einstweile­n gibt der Bundestrai­ner bescheiden­ere Ziele an. „Wir haben die Chance“, erklärt er, „mit guten und erfolgreic­hen Spielen ein sportliche­s Ausrufezei­chen zum Abschluss dieses schweren Jahres zu setzen.“Und: „Wir spielen auf Sieg.“Dann ist’s ja gut.

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FOTO:ROBERT MICHAEL/DPA Ein Schuss ins leere Trainingst­or: Bundestrai­ner Joachim Löw bei einer Einheit mit der Nationalma­nnschaft vor den anstehende­n Länderspie­len in Leipzig.

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