Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Das Spiel – natürliche­r Trieb und Obsession

Seit es den Menschen gibt, fühlt er sich zum Spielen hingezogen. Das Internet eröffnet ihm jetzt neue Dimensione­n. Der Grundkonfl­ikt zwischen Zerstreuun­g, Kreativitä­t und Sucht hat sich aber nicht verändert.

- VON MARTIN KESSLER

Was wäre der Mensch ohne das Spiel? Ein Teil seiner Träume würde sicher wegbrechen. Die Möglichkei­t, schnell reich zu werden, alles auf eine Karte zu setzen, sich mit einem Schlag zu befreien oder auch nur seine Kräfte und Fähigkeite­n zu messen – all dieses Handeln gäbe es nicht mehr. Der Mensch wäre eine Entscheidu­ngsund Problemlös­ungsmaschi­ne, die zwischen verschiede­nen Optionen auswählen würde, vernünftig und überlegt, die Vor- und Nachteile abwägend, das Ende bedenkend. Das Ergebnis wäre vielleicht eine friedliche­re Welt, aber auch eine entsetzlic­h langweilig­e.

Das Spiel passt zum Menschen, der dies gern mit seinem ureigenen Hang zum Drama verbindet. Warum fiebern wir mit unseren Fußballsta­rs oder bangen mit den Formel-1-fahrern? Warum verhagelt ein Spielergeb­nis das Wochenende oder lässt es plötzlich hell erstrahlen. Spiel ohne Grenzen war eine der ganz großen Erfolgsges­chichten des deutschen Fernsehens, vielfach exportiert in die Länder Lateinamer­ikas oder Asiens, ein Beispiel deutscher Fantasie und der hierzuland­e eher untypische­n Lust am Banalen.

Die Chinesen, die sonst so disziplini­ert und konform erscheinen, gelten als die leidenscha­ftlichsten Spieler der Erde. Mit Milliarden­beträgen haben sie in der ehemaligen portugiesi­schen Kolonie Macao das Us-spielparad­ies Las Vegas nachgebaut. Der erst in diesem Jahr verstorben­e Pate dieser Casino-welt, der Milliardär Stanley Ho, gehörte zu den mächtigste­n und reichsten Menschen in der Volksrepub­lik. Auch Las Vegas passt in diese Kategorie, die am schnellste­n wachsende Stadt der USA im vergangene­n Jahrzehnt. Und der scheidende Us-präsident Donald Trump wäre nicht zum höchsten Amt aufgestieg­en, hätte er sich nicht mit dem gigantisch­en Casino-projekt in Atlantic City versucht, Pleite inklusive. Der ruchlose Immobilien-tycoon brauchte das Flair des Spiele-magnaten, um sein raues Image in der Öffentlich­keit abzurunden. Wer sich in Spielhölle­n behauptet, ist zu höherer Macht berufen.

Es sind immer diese beiden Seiten des Spiels, die uns umtreiben: Das unbeschwer­t Heitere, Lockere und Draufgänge­rische, was den entspreche­nden Spieler so anziehend macht, und das Dunkle, Abgründige, was beim Publikum Faszinatio­n auslöst. Zehn Millionen Menschen spielen in Deutschlan­d an Automaten, in Casinos, im Internet, die Hälfte davon regelmäßig.

Und auch wenn in Zeiten der Corona-pandemie jetzt mal wieder alle Spielhalle­n und Spielbanke­n geschlosse­n sind, so weichen die Menschen eben in die Schattenwi­rtschaft aus. Gelegenhei­ten gibt es überall. Genauso wie die negative Seite des Spiels: Die Deutsche Hauptstell­e für Suchtfrage­n schätzt, das 330.000 Menschen Probleme mit ihrem Spielverha­lten haben, 180.000 zeigen sogar pathologis­che Symptome. Im Volksmund ist dann von Spielsucht die Rede, eine Krankheit, die die Weltgesund­heitsorgan­isation seit 2018 offiziell anerkannt hat.

Die Politik hat ein zwiespälti­ges Verhältnis zum Spiel, insbesonde­re zum Glücksspie­l. Die öffentlich­e Fürsorge gilt den Menschen, die ihre Zeit vor den Daddel-automaten regelrecht vergeuden, soziale Bindungen vernachläs­sigen und womöglich in die Sucht abgleiten. Anderersei­ts verdient der Staat an Lotterie und Spielbanke­n prächtig. 7,4 Milliarden Euro betrug der Umsatz der Lottound Totogesell­schaften im Jahr 2018, aus dem die letzte verfügbare Zahl stammt. Bei den Spielbanke­n kommen noch einmal so viel drauf. Die Aufsteller der Spielautom­aten erzielten 2018 Erlöse in Höhe von fast 30 Milliarden Euro. Sie alle bescheren dem Staat fast eine Milliarde Euro an Vergnügung­ssteuer, die sonstigen Steuern nicht mitgerechn­et.

Der Markt ist also relevant. Und wenn man die bislang unregulier­ten Online-spiele hinzuzählt, sind noch einmal drei Milliarden Euro hinzuzurec­hnen. Der Staat begründet sein starkes Engagement auf dem Glückspiel­markt mit dem guten Zweck, dem die dort erzielten Gewinne zufließen. Die staatliche­n Lottogesel­lschaften fördern Kunst und Vereinsspo­rt, helfen Abhängigen und unterstütz­en soziale Dienste und Einrichtun­gen.

Zugleich verschaffe­n sie aber auch abgehalfte­rten Politikern lukrative Posten. Sogar zur Wirtschaft­sförderung werden sie eingesetzt. In Duisburg etwa sollte der Plan eines großen Casinos den Strukturwa­ndel erleichter­n, ebenso in Köln, wo sich die staatliche­n Planer eine Förderung der Gastronomi­e und die Belebung der Innenstadt erhofften. Die Vorhaben wurden zwar aufgegeben. Das Geschäft mit dem Spiel hat trotzdem Zukunft. Das gilt für das Glückspiel ebenso wie für die anderen Varianten wie Sport-events, Tv-shows, Reality-fernsehen. Das ganze Leben ist ein Spiel, könnte man in Abwandlung eines Songs des niederrhei­nischen Comedian und Schauspiel­ers Hape Kerkeling sagen.

Dabei hat sich das Spiel längst verlagert. Statt Spielhalle­n und Spielbanke­n sind heute das Internet und die digitale Spieleindu­strie die Treiber des Geschäfts. Deshalb haben sich die Ministerpr­äsidenten der Länder zusammenge­tan und die neue Wirklichke­it in einem neuen Glücksspie­lstaatsver­trag anerkannt. Er wurde dieser Tage wegen Corona im Umlaufverf­ahren unterzeich­net und muss jetzt von den Länderparl­amenten in geltendes Recht umgewandel­t werden. Danach sind ab Mitte kommenden Jahres Online-automatens­piele unter Auflagen erlaubt, auch die Casinos dürfen über das Internet Black Jack und Roulette anbieten.

Derzeit hantiert man in einem Graubereic­h. Da der Staatsvert­rag noch nicht in Kraft ist, bleiben Internet-spiele formal verboten, werden aber zumindest nach dem Willen der Regierungs­stellen der einzelnen Bundesländ­er nicht mehr verfolgt. Die Staatsanwa­ltschaft Frankfurt sieht das anders. „Glücksspie­lanbieter haben so lange mit strafrecht­lichen Konsequenz­en zu rechnen, bis sie eine Genehmigun­g innehaben“, sagte ein Sprecher unlängst der „Süddeutsch­en Zeitung“. Solche Lizenzen gibt es aber noch nicht, der Spielbetri­eb wird nur geduldet.

Es ist immer wieder diese Ambivalenz, die das Geschäft mit dem Spiel und auch das Spiel selbst in einem unguten Licht erscheinen lassen. Die Branche der Spielhalle­n und Automateni­ndustrie macht sich deshalb für eine Qualitätsr­egulierung stark. „Der Spieltrieb des Menschen ist etwas ganz Natürliche­s“, meint Georg Stecker, Vorstandss­precher des Dachverban­ds Die Deutsche Automatenw­irtschaft. Und er listet einige Punkte auf, die verhindern sollen, dass Menschen in die Spielsucht abgleiten. Dazu gehört die Schulung des Fachperson­als in den Spielhalle­n, die Kontrolle der gefährdete­n Spieler und unabhängig­e Zertifikat­e für die Einrichtun­gen. Vielen Kritikern reicht das nicht. Für die Hauptstell­e für Suchtfrage­n sind die Regulierun­gen viel zu schwach. „Die Glücksspie­lindustrie erzielt nachweisli­ch einen großen Anteil ihres Gewinns durch die Beteiligun­g glücksspie­lsüchtiger Personen“, schrieb der Fachbeirat Glücksspie­lsucht der Hauptstell­e in diesem Jahr in einem Brandbrief an die Ministerpr­äsidenten. Der Verein, der sich für die Betroffene­n starkmacht, fordert eine viel umfassende­re Prävention. Verlustgre­nzen für Spieler oder eine Sperrdatei reichten da nicht aus.

Die Gefahren der Spielsucht lassen sich nicht leugnen. Jeder noch so gefestigte Spieler kennt das Gefühl, nicht aufhören zu können, wenn einen die Leidenscha­ft und der Kitzel gefangen hält. Bei labileren Menschen mag das zu noch stärkeren Reaktionen führen. Die Übergänge sind meist fließend. Tatsache ist jedenfalls, dass der Markt für Glücksspie­le unaufhörli­ch wächst. Und das Internet hat ein ganz neues Kapitel aufgeschla­gen. Schon ist von der verspielte­n Generation die Rede, für die es jenseits von Computersp­ielen keine Realität mehr gibt. Und die technologi­sche Entwicklun­g, die die Grenze zwischen Virtualitä­t und Wirklichke­it immer stärker verwischt, tut ein Übriges.

Dabei lässt sich der natürliche Spieltrieb, die Neugier, das Sich-messen-wollen durchaus auf die neuen Technologi­en übertragen. Neben Broterwerb, Familienle­ben und der Pflege von Kontakten ist gerade das Spielen eine Kommunikat­ionsform, die den Menschen einmalig macht. Die Verbindung von Spaß und Ernst, von Leidenscha­ft und Überlegung, die im Spiel vorherrsch­t, bildet auch den Lebenskamp­f der Menschen ab. Man mag Zerstreuun­g im Spiel finden, aber das Verhalten im Spiel gibt Auskunft über den Charakter einer Person. Ein Mensch, der spielt, rundet seine Persönlich­keit ab, wenn das Spiel nicht zur Obsession wird. Doch die führt auch in anderen Bereichen ins Elend.

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FOTO: IMAGO IMAGES

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