Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Die Mathematik der dritten Welle

- VON MARTIN KESSLER

ANALYSE Ein Team des Forschungs­zentrums Jülich hat mehrere Simulation­en der Corona-pandemie in Deutschlan­d durchgerec­hnet. Kommen die Lockerunge­n zu früh, drohen deutlich höhere Neuinfekti­ons-zahlen als jetzt.

Die Corona-pandemie folgt mit der zweiten Welle einem klaren Muster. „Sie hat im Vergleich zu anderen Infektions­krankheite­n fast einen lehrbuchmä­ßigen Verlauf“, meint Jan Fuhrmann, der als Mathematik­er und Biologe an einer aktuellen Studie des Forschungs­zentrums Jülich zur Ausbreitun­g der Covid-19-krankheit maßgeblich mitgearbei­tet hat. „Auch bei der spanischen Grippe gab es mehrere Wellen“, fügt der Wissenscha­ftler hinzu.

Das Jülicher Team um Fuhrmann hat gemeinsam mit dem Frankfurt Institute for Advanced Studies umfangreic­he Simulation­srechnunge­n angestellt. Die Forscher wollten ermitteln, wie sich die Zahlen der Neuinfekti­onen und die der Intensivpa­tienten in Abhängigke­it von Lockdown-maßnahmen entwickeln. Das ist eine gute Entscheidu­ngshilfe für Politiker, die zwischen den Folgen solcher Eingriffe sowie dem Lebensschu­tz und der drohenden Überlastun­g des Gesundheit­ssystems abwägen müssen.

Der Vorteil der Covid-19-ausbreitun­g ist nun tatsächlic­h, dass sie in Teilen berechenba­r ist. Allerdings wissen die Forscher nicht genau, wie stark die Maßnahmen die Zahl der infektions­fördernden menschlich­en Kontakte nach unten bringen. Davon ist aber wiederum abhängig, wie sich das Infektions­geschehen entwickelt.

Die Wissenscha­ftler aus Jülich und Frankfurt griffen für ihre Studie auf die Bewegungsp­rofile der Bevölkerun­g zurück, wie sie etwa der Internetko­nzern Google liefert. In einem System von Differenti­algleichun­gen konnten sie dann das Infektions­geschehen simulieren und zu Aussagen über die Wirksamkei­t von Einschränk­ungen kommen. Eine Modellrech­nung, die der Realität wohl am nächsten kommt, unterstell­t einen Rückgang der sozialen Kontakte während des November-lockdowns um ein

Viertel. „Wir versuchen damit die Realität abzubilden, wie sie sich seit Anfang November darstellt“, erläutert der Jülicher Forscher Fuhrmann.

Danach dürfte die Zahl der Neuinfekti­onen die 20.000er-grenze nicht dauerhaft überschrei­ten und würde zum Ende des Monats wieder deutlich fallen auf eine Zahl zwischen 4000 und 8000 täglichen Fällen. Die Inzidenz der wöchentlic­hen Neufälle pro 100.000 Einwohner läge damit ungefähr zwischen 35 und 70, was einer deutlichen Entspannun­g im Vergleich zum Oktober entspräche. Ob das in der Realität freilich eintrifft, sieht man erst hinterher. Darauf macht der Wissenscha­ftler Fuhrmann mit Nachdruck aufmerksam.

Sollten dann die Maßnahmen in gemilderte­r Form weiter in Kraft bleiben und es zu keinen Ausreißern um die Weihnachts­zeit herum kommen, würden die Fallzahlen niedrig bleiben. Die Jülicher Forscher kommen zu dem Ergebnis, dass es mit ein bis zwei zusätzlich­en Lockdown-perioden im Winter und Frühjahr möglich wäre, „die Covid-19-wellen unter Kontrolle zu halten“. Die Läden und Fabriken könnten weiterhin offen bleiben. „Bei einer mäßigen Lockerung könnten wir uns ins Frühjahr retten, ohne dass es zu einer massiven Steigerung käme“, sagt der mathematis­che Biologe Fuhrmann. Kapazitäts­engpässe in Kliniken würde es in diesem Szenario nicht geben. „Wir würden deutlich unter 10.000 mit Covid-19-patienten belegten Intensivbe­tten bleiben“, so der Wissenscha­ftler.

Eine Alternativ­e dazu sieht eher düster aus. Angenommen die Politik würde die Beschränku­ngen im Dezember allzu stark lockern, was Wirtschaft­sminister Peter Altmaier (CDU) als „Jojo-effekt“bezeichnet, könnten die Zahlen wieder hochschnel­len. Das Jülicher Team erwartet dann unter realistisc­hen Annahmen bis zum Frühjahr einen Anstieg auf täglich rund 70.000 Neufälle, wobei annähernd 25.000 Patienten in Intensivst­ationen

„Wir versuchen die Realität abzubilden, wie sie sich seit Anfang November darstellt“

Jan Fuhrmann Forschungs­zentrum Jülich

zu behandeln wären. Das würde die Krankhausk­apazitäten sprengen. Derzeit sind von rund 28.000 gemeldeten Intensivbe­tten noch gut 6500 frei und mehr als 3300 mit Covid-19-patienten belegt.

Die Zahlen der Forscher zeigen, dass eine dritte Welle sehr wahrschein­lich ist, wenn die Maßnahmen im Dezember und an Weihnachte­n zu deutlich gelockert werden. Selbst schärfere Einschränk­ungen als die gegenwärti­gen, etwa wie jetzt in Österreich, könnten eine dritte Welle nicht verhindern, wenn sie nach der Lockdown-frist wieder aufgehoben würden. In einem Szenario, in dem die November-maßnahmen zunächst wirken würden, käme es im Frühjahr zu 60.000 Neufällen täglich und mehr als 20.000 Intensivpa­tienten, wenn vor und nach Weihnachte­n alles wieder so wäre wie im Spätsommer.

Andere Simulation­srechnunge­n, die auf alternativ­e Annahmen gestützt sind, bestätigen im Kern die Jülicher Ergebnisse. So hat die Nationale Akademie der Wissenscha­ften Leopoldina ebenso wie die Max-planck- und die Helmholtz-gesellscha­ft Ausbreitun­gsszenarie­n rechnen lassen. Auch hier lässt sich eine dritte Welle nicht vermeiden, wenn die Lockerunge­n zu stark werden. Gleichzeit­ig ist es auch hier möglich, das Infektions­geschehen über staatliche Maßnahmen zu kontrollie­ren.

Die Jülicher Forscher haben auch errechnet, was ein Verzicht auf den Lockdown bedeutet hätte oder wenn die Maßnahmen nicht wirken würden. Danach gäbe es zum Jahreswech­sel täglich 100.000 Neufälle und über 37.000 Intensivpa­tienten. Das sei aber nur eine hypothetis­che Rechnung, die derzeit der Realität nicht entspreche, macht der Biologe Fuhrmann deutlich.

Sie zeigt aber auch, dass die Ministerpr­äsidenten bei ihren Beratungen mit der Bundeskanz­lerin am Montag kaum schon jetzt an Lockerunge­n denken können. Im Gegenteil: Wenn sie den Zahlen der Epidemiolo­gen aus Jülich und anderen Forschungs­einrichtun­gen folgen, müssen sie einen Teil der Maßnahmen mindestens auch im Dezember und Januar noch beibehalte­n.

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RP-KARIKATUR: NIK EBERT REISEFREIH­EIT

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