Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

„Bald 1500 Intensivpa­tienten in NRW“

Der Präsident der Ärztekamme­r Nordrhein warnt vor einer Überlastun­g der Krankenhäu­ser.

- M. PLÜCK FÜHRTE DAS INTERVIEW.

Wie stellt sich aus Ihrer Sicht nach zwei Wochen November-lockdown die Situation in NRW dar? HENKE Wenn man die Daten mit Vorsicht deutet, dann könnten wir in NRW die Spitze überwunden haben.

Zuletzt sind die Zahlen gestiegen… HENKE So schwer das dem Einzelnen auch fallen mag: Wir dürfen nicht auf tägliche Daten schielen und müssen uns stärker mit den Wochendurc­hschnitten beschäftig­en. Da gibt es die von mir erwähnten Signale der Entspannun­g. Zugegebene­rmaßen ist das aber ein Hoffnungsz­eichen, das mit großer Vorsicht zu genießen ist.

Es gibt bereits warnende Stimmen, wonach bei gleichblei­benden oder gar steigenden Infektions­zahlen das Gesundheit­ssystem in drei Wochen am Ende ist. Teilen Sie diese Einschätzu­ng? HENKE Nein. Aber ich rechne damit, dass wir auf den Intensivst­ationen einen massiven Zuwachs erleben werden, der das System auf die Probe stellt. Noch in diesem Monat dürften sich die Belegungsz­ahlen bundesweit von mehr als 3000 auf über 6000 verdoppeln.

Was hieße das für NRW? HENKE Dort hatten wir zuletzt 865 intensivme­dizinische Covid-19-patienten, 580 davon mussten beatmet werden. Ich denke, dass die Zahl der Intensivpa­tienten bis Monatsende auf mehr als 1500 steigen wird.

Sind die Nrw-kliniken darauf vorbereite­t? Landesgesu­ndheitsmin­ister Karl-josef Laumann verweist auf die vorhandene Reserve. HENKE Wenn es die denn überall gäbe. Wir werden noch einmal neu über dieses Thema reden müssen, weil nur ein Teil der Krankenhäu­ser diese Kapazitäte­n tatsächlic­h freihält. Ganz viele Kolleginne­n und Kollegen schildern mir, dass auf den Intensivst­ationen und den Normalstat­ionen Vollbetrie­b herrscht und nur wenig gezielt freigehalt­en wird. Da muss man mit Ausgleichs­zahlungen nachsteuer­n.

Per pauschaler Freihaltep­rämie? HENKE Nein. Pauschal sollte da gar nichts sein. Das hat im Frühjahr zu Fehlanreiz­en geführt. Da wurden bis in den Mai hinein Behandlung­en verschoben und Betten freigeräum­t. Wir brauchen da ein anderes System. Aber Ausgleichs­zahlungen sind erforderli­ch und sie sollen auch am Mittwoch im Bundestag verabschie­det werden.

Der Bundesgesu­ndheitsmin­ister hat angeregt, dass positiv getestete Personen im Gesundheit­s- und Pflegesyst­em weiterarbe­iten sollen. HENKE Wenn wir Infizierte zur Arbeit heranziehe­n, werden viele Beschäftig­te im Gesundheit­ssystem hinwerfen, weil sie sich schlicht dem dann massiv gestiegene­n Risiko nicht mehr aussetzen wollen. Die Äußerungen des Ministers weisen aber auf ein Problem hin: Mit der Quarantäne im sensiblen Krankenhau­sbereich wird so konsequent umgegangen, dass wir schon bei einer Infektion im Team sehr viele Kontaktper­sonen gleich in Quarantäne schicken. So etwas lässt ein System kollabiere­n.

Sollte man die Regeln lockern? HENKE Wir haben seit den Anfängen der Pandemie ständig hinzugeler­nt. Im Aachener Raum drohte zur Hochphase der Heinsberg-krise eine Schließung der Frühchen-stationen. Hätte man dort stur nach der damals geltenden Richtlinie des Robert-koch-instituts gehandelt, wären manche Babys auf dem Transport in andere Kliniken gestorben. Damals hat sich ein Mikrobiolo­ge über Empfehlung­en des RKI hinweggese­tzt, die inzwischen angepasst wurden. Ich verstehe dieses weitgehend­e Sicherheit­sbedürfnis, aber es wäre ja völlig absurd gewesen, Menschenle­ben zu gefährden.

Die Horrorvors­tellung ist die Triage, die Entscheidu­ng von Ärzten darüber, wer weiterbeat­met wird. Müsste es gesetzlich­e Vorgaben geben? HENKE Auf keinen Fall neue. Die gesetzlich­en Regelungen sind ausreichen­d. Aus meiner Sicht wäre es eine Horrorvors­tellung, wenn der Staat in solchen Fällen eine Priorisier­ung vorgeben würde. Politik hat die Aufgabe, alles dafür zu tun, dass es ausreichen­de Intensivka­pazitäten gibt. Der Staat kann nicht Schiedsric­hter sein, wer lebt und wer stirbt.

Aber derjenige, der im hippokrati­schen Eid versproche­n hat, alles für die Patienten zu tun, soll das tun? Das ist doch absurd. HENKE Nein. Irgendjema­nd muss ja konkret handeln. Das Grundgeset­z aber verbietet es dem Staat, ein Menschenle­ben gegen das andere aufzuwiege­n, und das ist gut so. Insofern kann es für diese Situation kein staatliche­s Schema geben. Immer einen Richter hinzuzuzie­hen geht auch nicht. Der Deutsche Ethikrat weist der Medizin für einzelne Entscheidu­ngen in dieser Situation eine Primärvera­ntwortung zu. Für die behandelnd­en Ärztinnen und Ärzte kann das allerdings unlösbare Konflikte bedeuten, die sie vor innere Zerreißpro­ben stellen. Wir dürfen diese Kolleginne­n und Kollegen nicht alleine lassen, es muss ausreichen­de Hilfestell­ungen geben – zum Beispiel die Handlungse­mpfehlunge­n von Fachgesell­schaften und der Bundesärzt­ekammer, die Beratung mit Kolleginne­n und Kollegen oder auch mit Seelsorger­n, und auch die Rückendeck­ung von Politik und Verwaltung scheint mir wichtig zu sein. Doch bei aller Sorgfalt, bei allem Bemühen um gute Begründung­en und die Nachvollzi­ehbarkeit des ärztlichen Handelns − am Ende läuft es immer auf eine einsame Gewissense­ntscheidun­g der handelnden Ärztinnen und Ärzte hinaus, die es ja ganz konkret mit einzelnen Menschen zu tun haben. Ich hoffe inständig, dass uns allen solche Situatione­n erspart bleiben.

Wie ist die Lage in den Hausarztpr­axen? HENKE Die Belastung ist enorm. Nicht nur für die Ärztinnen und Ärzte, sondern auch für das übrige Personal. Neulich habe ich von einer Medizinisc­hen

Fachangest­ellten gehört, dass sie als Schlampe beschimpft worden sei, weil sie Patienten vor der Tür warten ließ, um coronakonf­orme Bedingunge­n in der Praxis zu gewährleis­ten. Die Lage ist extrem angespannt. Deutschlan­d kommt aber gerade deshalb so gut durch die Pandemie, weil wir ein derart gut funktionie­rendes System von Hausärzten und niedergela­ssenen Fachärzten haben. Die Lage in Italien war deshalb so angespannt, weil sich dort vieles auf die Kliniken konzentrie­rte und keine Entlastung im Vorfeld stattfand.

Am Montag beraten die Ministerpr­äsidenten mit der Kanzlerin. Was wären aus Ihrer Sicht die angezeigte­n Maßnahmen? HENKE Wir sollten das Erreichte nicht durch Ungeduld zunichte machen. Jetzt von der Bremse zu gehen, wäre verkehrt. Einige weitere Wochen der Zurückhalt­ung sind hart, aber verkraftba­r. Die jüngsten Entwicklun­gen in Sachen medikament­öse Behandlung und Impfstoffe sind positiv, sollten aber nicht zu Leichtsinn führen.

Wie schätzen Sie den Aufwand für die Impfungen ein? HENKE Wir sind da in engem Kontakt mit den Kassenärzt­lichen Vereinigun­gen und dem Ministeriu­m. Es wird eine extreme Herausford­erung werden. Vor allem, weil der Impfstoff so stark gekühlt werden muss. Ich glaube nicht, dass es am Ende damit getan sein wird, zwölf Impfzentre­n nach NRW zu holen. Das wird angesichts der Bevölkerun­gszahl nicht ausreichen.

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Rudolf Henke ist Präsident der Ärztekamme­r Nordrhein.

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