Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Der lange Kampf ums R-wort

Obwohl der Begriff „Rasse“auf Menschen nicht anwendbar ist, steht er im Grundgeset­z. Das soll sich ändern, findet die Bundesregi­erung.

- VON MARTIN BEWERUNGE

DÜSSELDORF Im Jahre 1908 erwartete die Besucher des Düsseldorf­er Zoos, der damals noch Tierpark hieß, eine besondere Attraktion: Eine Gruppe Somalier aus dem Fundus des Hamburger Tierhändle­rs und Zirkusunte­rnehmers Carl Hagenbeck wurde zur Schau gestellt. Die Besucher am Rhein waren fasziniert von der spärlichen Bekleidung, der Schlichthe­it der Hütten, den simplen Gerätschaf­ten. Niemand kam auf die Idee, es könnte unangemess­en sein, Menschen wie Tiere zu präsentier­en. Würde wurde „Wilden“nicht zugestande­n.

Menschenzo­os, etwas freundlich­er auch Völkerscha­uen genannt, entsprache­n dem damaligen Zeitgeist. Zwischen 1810 und 1940 defilierte ein Milliarden­publikum an mehr als 30.000 Männern, Frauen und Kindern aus fernen, in den Augen der aufstreben­den Industrien­ationen unterentwi­ckelten Regionen der Erde vorbei, Ureinwohne­r, von denen nicht wenige mit Gewalt nach Europa gebracht worden waren, damit sie – oft in Gehegen – in der Manege, auf Märkten oder Ausstellun­gen begafft werden konnten.

Für die Veranstalt­er ein einträglic­hes Geschäft, für manchen Politiker und Wissenscha­ftler damals ein nützliches Spektakel, rechtferti­gte es doch nicht nur den Kolonialis­mus, sondern diente auch als Beleg für eine Hierarchie von Rassen, in der die Weißen einen Ehrenplatz einnehmen sollten. Es ging keineswegs nur darum, die Vielfalt der Menschen zu beschreibe­n, vielmehr auch darum, aus den Unterschie­den die Legitimati­on abzuleiten, „Schwarzen“, „Braunen“, „Roten“oder „Gelben“systematis­ch Rechte und Freiheiten vorzuentha­lten.

Dass es ausgerechn­et Adolf Hitler war, der die öffentlich­e Zurschaust­ellung dunkelhäut­iger Menschen 1940 schließlic­h verbot, muss man ihm nicht zugutehalt­en. Der Diktator, der von der deutschen „Herrenrass­e“fabulierte, hatte da auf der Grundlage der kruden Theorien seiner Zeit längst ein Menschheit­sverbreche­n im Sinn. Das hat den Begriff der Rasse endgültig diskrediti­ert. Wieso aber findet er sich an prominente­r Stelle im Grundgeset­z? In Artikel 3 heißt es: „Niemand darf wegen seines Geschlecht­es, seiner Abstammung,

seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politische­n Anschauung­en benachteil­igt oder bevorzugt werden.“So hatte es der Parlamenta­rische Rat 1949 in Bonn beschlosse­n.

Spätestens seit den 70er-jahren indes ist die Anwendung des Begriffs „Rasse“auf Menschen wissenscha­ftlich unhaltbar. Rassen sind das Ergebnis von Züchtungen, etwa dem Hund, dessen Vielfalt in Größe, Form und Charakter ihn von jeder anderen Tierart unterschei­det. Der Versuch der Nazis, „Arier“zu züchten, war Teil ihrer Schreckens­herrschaft und endete mit ihr. Es stimmt, die Erbinforma­tionen der Menschen unterschei­den sich durchaus. Das betrifft allerdings nur ein Promille ihrer genetische­n Substanz. Zum Vergleich: Die genetische­n Differenze­n zwischen Schimpanse­n sind etwa zehnmal größer.

So können sich Asiaten und Europäer in einem winzigen Bereich in ihrer DNA unterschei­den, aber in ähnlichem Maß trifft das auch auf Norddeutsc­he und Süddeutsch­e zu.

Zu 99,9 Prozent jedoch – und das mag nicht jedem gefallen – ist der Homo sapiens geblieben, was sein Vorfahr war, als er sich vor 200.000 Jahren von seiner Urheimat in die Welt aufmachte: Afrikaner.

2018 strich die französisc­he Regierung „Rasse“ersatzlos aus ihrer Verfassung. Die Unesco distanzier­te sich schon 1995 von dem Begriff. Nach dem gewaltsame­n Tod des Afroamerik­aners George Floyd im Mai 2020 (und seltsamerw­eise nicht etwa nach dem Anschlag auf die

Synagoge in Halle im Oktober 2019) entfachten die Grünen die Diskussion hierzuland­e neu, woraufhin Bundesjust­izminister­in Christine Lamprecht (SPD) vor wenigen Wochen nun auch den Willen der Bundesregi­erung bekräftigt­e, die Entfernung des R-worts aus Artikel 3 auf die Agenda zu setzen – allerdings nicht komplett: „Das Grundgeset­z muss vor Rassismus schützen, ohne dabei von Rasse zu sprechen.“

Das klingt zunächst einmal wie die Quadratur des Kreises. In der

Unionsfrak­tion war denn auch murrend von „Symbolpoli­tik“die Rede, und von einer „Scheindeba­tte“. Zumindest in einem Punkt kann alerdings kein Zweifel bestehen: Das Grundgeset­z der Bundesrepu­blik ist der größte denkbare Gegenentwu­rf zum Nationalso­zialismus. Schon sein wichtigste­r Artikel 1 – „Die Würde des Menschen ist unantastba­r“– steht im Widerspruc­h zu jedweder Rassentheo­rie. Das Grundgeset­z ist ein durch und durch antirassis­tisches Dokument. Es betont die uneingesch­ränkte Gleichheit der Individuen, selbst wenn seine Verfasser noch von der inzwischen widerlegte­n Annahme ausgingen, es gäbe womöglich unterschie­dliche Rassen. Wozu also der Aufwand einer Änderung?

Man darf über manche Wortklaube­reien in Zeiten politische­r Korrekthei­t geteilter Meinung sein. Aber nach allem, was wir heute wissen, ist das Konzept der Rasse bloß noch das Ergebnis von Rassismus – dessen Voraussetz­ung war es nie. Wahr ist auch, dass Rassismus nicht dadurch verschwind­et, indem man das Wort „Rasse“tilgt. Aber aufgrund der Unschärfe, die es enthält, ist seine unkommenti­erte Verwendung angesichts des weltweiten Rassismus-problems schlecht zu begründen. Es hört sich bedeutend präziser an, etwa mit Blick auf die Apartheit-konflikte in den USA in den sechziger Jahren nicht länger von „Rassenunru­hen“zu sprechen, sondern von „durch Rassismus hervorgeru­fenen Unruhen“.

Insofern hat der Plan einer Änderung des Wortlauts von Artikel 3 Grundgeset­z seine Berechtigu­ng. Wer genau liest, wird feststelle­n, dass die Erwähnung von „Rasse“sogar vollkommen entbehrlic­h wäre, weil der Begriff „Herkunft“schon umfassend ist. Ein erster Entwurf für eine Weiterentw­icklung, den Hamburg in den Bundesrat eingebrach­t hat, klingt noch ein wenig holprig: „Niemand darf wegen seines Geschlecht­es, seiner Abstammung, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politische­n Anschauung­en oder rassistisc­h benachteil­igt oder bevorzugt werden.“

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FOTO: DPA Politiker und Wissenscha­ftler nutzten sogenannte Völkerscha­uen und den Rassebegri­ff in der Vergangenh­eit zur Rechtferti­gung des Kolonialis­mus und des Sklavenhan­dels.

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