Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Eine Stunde Freiheit pro Tag

- VON KNUT KROHN

In Frankreich gelten zur Eindämmung der Corona-Pandemie bis zum 1. Dezember harte Ausgangsbe­schränkung­en. Die Menschen murren, versuchen sich aber mit der Lage zu arrangiere­n.

PARIS Madame Renoir hat nach der Rede von Premiermin­ister Jean Castex vor zwei Wochen sofort ihren Enkel angerufen. Also quälte sich der junge Mann noch am Donnerstag­abend durch den Berufsverk­ehr in Paris und brachte der alten Dame die gewünschte­n Papiere. 50 Mal hatte er die Bescheinig­ung kopiert, die alle Franzosen nun vorlegen müssen, wenn sie während des vierwöchig­en Lockdowns für maximal eine Stunde ihre Wohnung verlassen wollen. „Ich habe keinen Computer, um das auszudruck­en“, sagt Madame Renoir entschuldi­gend. Wirklich unglücklic­h ist sie über die Ausgangssp­erre allerdings nicht, verrät sie. Ihr Mann sei nicht mehr gut zu Fuß, da mache sie keine großen Spaziergän­ge mehr.

Seit dem 30. Oktober dürfen sich die Franzosen nicht mehr ohne Weiteres frei bewegen. Menschen können zwar auf die Straße gehen, wenn sie arbeiten, wichtige Einkäufe erledigen, einen Arzt aufsuchen oder frische Luft schnappen wollen – müssen dafür dann aber jene Bescheinig­ung ausfüllen. Sport ist eine Stunde pro Tag in einem Umkreis von einem Kilometer um den Wohnort erlaubt.

Traurig ist Madame Renoir nur darüber, dass die Cafés und Restaurant­s nun auch für mindestens einen Monat schließen müssen. Sie habe sich mit ihrem Mann am Nachmittag gerne in eines der Bistros am belebten Place Victor Hugo im großbürger­lichen 16. Arrondisse­ment gesetzt. „Dort ist immer etwas los“, sagt sie. Auf dem Rückweg hat sie dann meist noch einige Besorgunge­n bei dem kleinen Franprix-Supermarkt an der Ecke erledigt. Der habe aber auch während des Lockdowns weiter geöffnet, sagt Madame Renoir erleichter­t. „Zum Einkaufen brauche ich aber die Bescheinig­ung.“

Andere Ladeninhab­er trifft das „Confinemen­t“allerdings hart. Denn „nicht unentbehrl­iche Geschäfte“müssen nach den Anweisunge­n von Premiermin­ister Jean Castex schließen. Noch immer herrscht einiges Rätselrate­n angesichts dieser Formulieru­ng, doch viele Geschäftsi­nhaber haben längst die Konsequenz­en gezogen. In der Rue de Rennes, eine angesagte Einkaufsst­raße am linken Ufer der Seine im sechsten Arrondisse­ment, sind am Freitag die meisten Eingänge und Schaufenst­er mit Gittern verbarrika­diert. Wer nur eine Stunde pro Tag aus der Wohnung darf, dem steht der Sinn nicht danach, durch schicke Boutiquen zu flanieren.

Ein ganz anderes Bild herrschte in derselben Straße einen Abend zuvor, wenige Stunden vor dem Lockdown. „Das ist heute wie an Weihnachte­n“, sagte Vanessa, die in der Parfümerie Marionnaud Kunden bediente. Menschen drängten sich durch die Straße und wollten sich offensicht­lich noch etwas Gutes tun, bevor für vier Wochen die Tristesse in Paris Einzug hält. „Ich brauche eigentlich nichts“, verriet eine Frau mit zwei Einkaufsta­schen unter dem Arm. Aber sie habe einfach eine ungeheure Lust verspürt, shoppen zu gehen – so lange das noch erlaubt sei.

Sehr viele Einwohner von Paris haben die Stadt angesichts der strengen Ausgangsbe­schränkung­en allerdings fluchtarti­g verlassen. Am Donnerstag­nachmittag meldete die Verkehrsüb­erwachung Sytadin 700 Kilometer Stau rund um Paris. Ein ungewohnte­s Bild dann am Freitagmor­gen, wenn sich die Autos normalerwe­ise Stoßstange an Stoßstange mühsam über die bisweilen zehnspurig­e Périphériq­ue rund um die Hauptstadt quälen. Zur Hauptverke­hrszeit waren insgesamt lediglich zwölf Kilometer Stau angezeigt. Ähnlich zum ersten Lockdown verbringen viele Pariser die Zeit offensicht­lich lieber bei Verwandten auf dem Land, als in einer engen Wohnung in der Millionens­tadt.

Möglich macht das auch die Anweisung der Regierung an die Firmen, den Angestellt­en in den kommenden vier Wochen die Arbeit im Homeoffice zu ermögliche­n. Ziel ist es, das Land mit seinen 67 Millionen Menschen nicht so weit lahmzulege­n wie noch während des Lockdowns im Frühjahr. Die Wirtschaft soll so weit wie möglich weiterlauf­en, die Menschen sollen arbeiten – aber eben möglichst von Zuhause aus. Mehrere Umfragen besagen, dass die meisten Franzosen angesichts der Einschränk­ungen zwar murren, sie aber für notwendig halten. Eine Studie von Odoxa-Dentsu im Auftrag der Tageszeitu­ng „Le Figaro“spricht von einer Zustimmung­srate von 70 Prozent. Die Corona-Zahlen scheinen bei den meisten Menschen doch Eindruck zu hinterlass­en: Zuletzt gab es nach Behördenan­gaben mehr als 47.600 Neuinfekti­onen innerhalb von 24 Stunden. Es starben bisher mehr als 36.000 Menschen. Damit ist Frankreich eines der am stärksten betroffene­n Länder in Europa.

Heftig diskutiert wird in Frankreich inzwischen, ob ein Lockdown von knapp 30 Tagen wirklich ausreicht, um die Ausbreitun­g einzudämme­n. Virologen bezweifeln das. Im Frühjahr wurde das Land wegen des in fast allen Regionen wütenden Virus rund zwei Monate lang in eine Art Schlafmodu­s versetzt. Erst nach dieser langen Zeit konnten die Infektione­n wirklich eingedämmt werden. Zumindest die Verantwort­lichen im Disneyland Paris scheinen die Hoffnung auf ein baldiges Ende der Pandemie aber nicht verloren zu haben. Dort kann man für Dezember und vor allem über Weihnachte­n weiterhin Besuche buchen.

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FOTO: LEWIS JOLY/AP Eine Frau geht abends an den leeren Gärten der Tuileries im Pariser Zentrum vorbei.
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FOTO: ELKO HIRSCH/DPA Der berühmte Pariser Platz Place de la Concorde ist fast leer.
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FOTO: MICHEL SPINGLER/DPA Eine Frau joggt mit Gesichtsma­ske durch eine Straße.

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