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Cum-ex-skandal: Koalition will mehr Geld zurückholen
An diesem Dienstag beginnt in Bonn der zweite Strafprozess um Steuerbetrug mit Aktien in großem Stil.
BERLIN (dpa) Die Koalition will die Aufarbeitung des Cum-ex-steuerskandals beschleunigen. Veruntreute Milliardengelder sollen länger als bisher möglich zurückgeholt werden können. Daneben soll die Verjährungsfrist für besonders schwere Steuerhinterziehung von zehn auf zwölf Jahre verlängert werden. Nötige Änderungen sollen aus dem Entwurf zur vermutlich erst Mitte 2021 in Kraft tretenden Reform der Strafprozessordnung herausgelöst und ins Jahressteuergesetz gebracht werden. Vor dem Bonner Landgericht beginnt am Dienstag ein Prozess gegen den ehemaligen Generalbevollmächtigen der Hamburger Privatbank Warburg wegen Steuerhinterziehung.
BONN Mit 77 Jahren genießt man, wenn man gesundheitlich einigermaßen auf der Höhe ist, normalerweise seinen Ruhestand. In diesem Alter als Angeklagter in einem Gerichtssaal zu sitzen, ist nicht das, was man in der Regel mit diesem Lebensabschnitt verbindet. Bei Christian S., dem ehemaligen Generalbevollmächtigten der renommierten Hamburger Privatbank Warburg, ist das anders. Er muss sich ab Dienstag vor dem Bonner Landgericht den Vorwürfen der Staatsanwaltschaft stellen. Die Anklage lautet auf schwere Steuerhinterziehung.
Es geht um mögliche Straftaten, die unter dem Namen Cum-ex bekannt geworden sind. Der Name leitet sich daraus ab, dass Aktien mit („cum“) und ohne („ex“) Dividende gehandelt wurden. Das Ziel: Mehrere Beteiligte ließen sich Steuern erstatten, obwohl diese nur einmal gezahlt worden waren.
Der Trick ist vergleichsweise simpel: A besitzt Aktien eines Unternehmens, B nicht. Trotzdem verkauft B Aktien an C. Das nennt man Leerverkauf – die Veräußerung von Papieren, die man gar nicht besitzt. Anschließend wird Dividende gezahlt. 75 Prozent davon kassiert A, der Rest geht als Kapitalertragssteuer, die sich A später erstatten lassen kann, an den Staat. Nach der Ausschüttung verkauft A seine Aktien an B. Die Papiere sind nach der Dividendenzahlung in der Regel weniger wert als vorher, also zahlt B einen geringeren Preis. Er bekommt aber auch die Dividende. B gibt die Aktien jetzt an C weiter – man erinnere sich an den Leerverkauf – und überlässt ihm auch noch die Netto-dividende. Für die restlichen 25 Prozent lässt sich C eine Steuerbescheinigung ausstellen. Jetzt gibt C die Aktien wieder an A zurück. Alles ist wieder wie am Anfang – nur dass A und C sich Steuern erstatten lassen können, obwohl nur A tatsächlich welche gezahlt hat. Ein Verfahren, bei dem der Fiskus viele Milliarden zu Unrecht ausgezahlt hat.
Das erschien über Jahre hinweg als legaler Steuertrick, doch seit 2012 wird dies geahndet – mit harten Bandagen. Cum-ex-tricksereien werden mittlerweile als Straftat verfolgt. Insgesamt gibt es mehr als 1000 Beschuldigte in solchen Verfahren, davon allein 927 in Nordrhein-westfalen.
Denen stehen 55 Ermittler gegenüber – viel zu wenig, wie Gerhard Schick meint. Der frühere finanzpolitische Sprecher der Grünen im Bundestag ist seit Juli 2018 Vorstand der „Bürgerbewegung Finanzwende“für eine nachhaltige Finanzwirtschaft. Er meint: „Bei Staatsanwaltschaft, Steuerfahndung und Polizei müsste es allein in NRW 150 Mitarbeiter geben, die sich mit Cum-ex beschäftigen. Pro Staatsanwalt braucht man fünf Zuarbeiter.“Über Jahre hinweg sei das Thema massiv unterschätzt worden, es seien falsche Entscheidungen in Sachen Personalausstattung getroffen worden. „Jetzt laufen wir Gefahr, dass viele Taten verjähren“, so Schick, der Mitinitiator des auf Bestreben von Grünen und Linken eingesetzten Untersuchungsausschusses zu den Cum-ex-geschäften war.
Was eine mögliche Verjährung angeht, will die Koalition vorbeugen. Veruntreute Milliarden sollen länger als bisher möglich zurückgeholt werden können. Dafür soll die Einziehung rechtswidrig erlangter Gewinne auch in verjährten Fällen möglich sein. Daneben soll die Verjährungsfrist für besonders schwere Steuerhinterziehung von zehn auf zwölf Jahre steigen. Am Geld könne es nicht liegen: „100 Mitarbeiter zusätzlich verursachen gerade mal zehn Millionen Euro an Kosten jährlich, einen Bruchteil von dem, was an Steuerschaden entstanden ist.“Wie hoch der tatsächlich ist, weiß niemand. Schätzungen gehen von bis zu 50 Milliarden Euro aus.
Der ehemalige Warburg-generalbevollmächtigte ist einer von vier Vertretern der Privatbank, gegen die eine Anklage bereits zugelassen worden ist. Auch andere Banken stehen im Verdacht, daneben Anwaltskanzleien und andere. Der Schaden, der dem Fiskus entstanden sein könnte, geht auf jeden Fall in die zig Milliarden. Schick sieht auch Schuldige im Bundeszentralamt für Steuern: „Dort gab es seit 2009 eine Liste mit möglichen Tatverdächtigen, die der Staatsanwaltschaft jahrelang nicht übergeben worden ist.“Er hat bereits im Frühjahr Strafanzeige gegen Mitarbeiter der Behörde gestellt.
Der ehemalige Grünen-politiker möchte erreichen, dass die Beschuldigten nicht mit Geldstrafen davonkommen: „Ich hoffe, dass es zu Gefängnisstrafen kommt, denn das ist die einzige Sprache, die diese Herren verstehen.“Dass zwei Börsenhändler bei ihrem Prozess im Frühjahr mit Bewährungsstrafen davon kamen, lag auch daran, dass sie geständig waren und am Ende maßgeblich zur Aufklärung beitrugen.