Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Was die Experten sagen
Virologen und Infektionsforscher sehen den Anstieg der Fallzahlen mit Sorge und fordern Nachschärfungen der Maßnahmen.
BERLIN/DÜSSELDORF Es ist erst zwei Wochen her, dass die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten einen umfangreichen Katalog an einschneidenden Maßnahmen beschlossen, um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen. Weil die Fallzahlen zuletzt noch einmal stark gestiegen sind, wurde dort über neue verschärfte Regeln diskutiert. Wie sinnvoll sind aber mögliche Nachschärfungen? Unsere Redaktion hat bei verschiedenen Experten nachgefragt.
Wann sollte man mit verschärften Regeln nachlegen?
Nach Einschätzung des Virologen Helmut Fickenscher, der das Institut für Infektionsmedizin an der Kieler Universität leitet, hat man zu lange gewartet, dem rasanten Anstieg der Infektionszahlen etwas entgegenzusetzen. In vielen Landkreisen und Städten habe schon lange dringender Handlungsbedarf bestanden. Die seit mehr als zwei Wochen bestehenden Maßnahmen des Teil-lockdowns haben zwar aus seiner Sicht den weiteren Anstieg der Fallzahlen etwas ausgebremst, doch hält Helmut Fickenscher wenig von Lockerungen im Verlauf des Winters. Im Gegenteil. Weitere verschärfte Regelungen, stellt er fest, seien unumgänglich. Die Ankündigung, Weihnachten sei ohne Beschränkungen möglich, hält er für unbedacht.
Ähnlich sieht es der Leiter der Infektiologie an der Universitätsklinik in Köln, Gerd Fätkenheuer. Für ihn kommt der jüngste Anstieg der Zahl der Neuinfektionen nicht unerwartet. „Ich war schon immer skeptisch, ob die bisherigen, auch verschärften Regeln ausreichen“, meint der Infektiologe.
Wie sinnvoll ist die Idee, dass Kinder und Jugendliche nur noch einen Freund oder eine Freundin treffen und nur zwei aus einem weiteren Haushalt bei Treffen im Freien dabei sein dürfen?
Der Leiter des Instituts für Virologie an der Universitätsklinik Düsseldorf, Jörg Timm, hält solche Kontaktbeschränkungen für sehr wichtig. „Wenn sich die Menschen an die Vorschriften halten, bringt das eine ganze Menge“, bemerkt der Mediziner. Allerdings müssten die Empfehlungen sowohl im privaten als auch im öffentlichen Raum eingehalten werden. Und er schränkt ein: „Falls sich viele Personen in privaten Räumen statt im Freien treffen, ist das Infektionsrisiko sogar eher höher.“Für den Kölner Infektiologen Gerd Fätkenheuer zeigt sich hier ein Kommunikationsproblem. „Ich hätte mir gewünscht, dass diese sinnvollen Maßnahmen besser kommuniziert worden wären“, stellt er fest.
Ist das Infektionsrisiko in Bussen und Bahnen besonders hoch?
Der Kieler Infektionsforscher Helmut Fickenscher stimmt zu und hält ein größeres Angebot an Schulbussen für überfällig. Der Wissenschaftler sagt: „Einerseits hat man in der Schule den Blick auf Kontaktminimierung gelegt, andererseits befördert man seit Monaten Schüler in vollgestopften Bussen.“
Wie sinnvoll ist eine Quarantäne bei Erkältungssymptomen?
Der Düsseldorfer Virologe Timm hält sie für „absolut sinnvoll“. Das mindere das Infektionsrisiko sowohl für Covid-19 wie auch für die Grippe, die sich in den Wintermonaten ausbreitet. „Es muss aber freiwillig geschehen. Die soziale Kontrolle wirkt hier schon“, schränkt der Klinik-professor ein. Die Dauer der Selbstisolation von fünf bis sieben Tagen wie vorgeschlagen passe dann, wenn kein Test gemacht wird und die Symptome in dieser Zeit abklingen. Timm: „Bei einem positiven Test für Covid-19 muss der Patient momentan zehn Tage in häusliche Isolation gehen.“
Ist der Fokus auf den Schwellenwert von wöchentlich 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner noch sinnvoll?
Der Düsseldorfer Virologe Timm möchte daran grundsätzlich festhalten, auch wenn die Inzidenz, wie der Wert wissenschaftlich heißt, zurzeit praktisch keine Bedeutung habe. Der Mediziner befürchtet eine Überlastung des Gesundheitssystems ohne Richtwert. Allerdings lasse sich inzwischen eine Abflachung der Kurve bei den Neuinfektionen und auch bei den Intensivfällen feststellen. Für den medizinischen Mathematiker Jan Fuhrmann vom Forschungszentrum Jülich kommt es darauf an, den Wert richtig zu interpretieren. „Der Trend ist wichtig“, sagt Fuhrmann. Bei einer gemeldeten Inzidenz von 35 mit steigender Tendenz seien im fraglichen Gebiet unter Umständen mehr Personen aktuell infiziert als bei einer solchen von 70 mit fallender Tendenz. Das liege an der Verzögerung der gemeldeten Fälle.
Sollen Schulklassen halbiert werden und getrennten Unterricht erhalten?
Der Virologe und Laborleiter in der Klinik für Infektiologie des Uniklinikums Essen, Adalbert Krawczyk, findet, dass halbierte Klassen und damit ein geringerer Kontakt sowie das Tragen von Masken das Infektionsrisiko senken und sagt: „Aus rein virologischer Sicht ist auch das Tragen eines Mund-nasen-schutzes bei Grundschülern sinnvoll.“
Was ist davon zu halten, Ffp2-masken an Senioren abzugeben?
Der Essener Virologe Krawczyk betont den guten Selbstschutz der Ffp2-masken. „Wenn es bei älteren Menschen – wie beim Einkaufen oder beim Arztbesuch – zu sozialen Kontakten kommt, macht es Sinn, sie so zu schützen“, glaubt der Experte. Allerdings werde eine hohe Anzahl an Ffp2-masken notwendig sein, um neben Menschen jenseits der 65 vor allem medizinisches Personal damit auszustatten. Der Kieler Infektionsforscher Fickenscher sieht vor allem Schwierigkeiten, die Masken in ausreichender Form zu beschaffen. „Und sie machen nur dann Sinn, wenn sie adäquat – also auch über der Nase – getragen werden“, fügt er hinzu.