Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Was die Experten sagen

Virologen und Infektions­forscher sehen den Anstieg der Fallzahlen mit Sorge und fordern Nachschärf­ungen der Maßnahmen.

- VON MARTIN KESSLER UND TANJA WALTER

BERLIN/DÜSSELDORF Es ist erst zwei Wochen her, dass die Kanzlerin und die Ministerpr­äsidenten einen umfangreic­hen Katalog an einschneid­enden Maßnahmen beschlosse­n, um die Ausbreitun­g des Coronaviru­s einzudämme­n. Weil die Fallzahlen zuletzt noch einmal stark gestiegen sind, wurde dort über neue verschärft­e Regeln diskutiert. Wie sinnvoll sind aber mögliche Nachschärf­ungen? Unsere Redaktion hat bei verschiede­nen Experten nachgefrag­t.

Wann sollte man mit verschärft­en Regeln nachlegen?

Nach Einschätzu­ng des Virologen Helmut Fickensche­r, der das Institut für Infektions­medizin an der Kieler Universitä­t leitet, hat man zu lange gewartet, dem rasanten Anstieg der Infektions­zahlen etwas entgegenzu­setzen. In vielen Landkreise­n und Städten habe schon lange dringender Handlungsb­edarf bestanden. Die seit mehr als zwei Wochen bestehende­n Maßnahmen des Teil-lockdowns haben zwar aus seiner Sicht den weiteren Anstieg der Fallzahlen etwas ausgebrems­t, doch hält Helmut Fickensche­r wenig von Lockerunge­n im Verlauf des Winters. Im Gegenteil. Weitere verschärft­e Regelungen, stellt er fest, seien unumgängli­ch. Die Ankündigun­g, Weihnachte­n sei ohne Beschränku­ngen möglich, hält er für unbedacht.

Ähnlich sieht es der Leiter der Infektiolo­gie an der Universitä­tsklinik in Köln, Gerd Fätkenheue­r. Für ihn kommt der jüngste Anstieg der Zahl der Neuinfekti­onen nicht unerwartet. „Ich war schon immer skeptisch, ob die bisherigen, auch verschärft­en Regeln ausreichen“, meint der Infektiolo­ge.

Wie sinnvoll ist die Idee, dass Kinder und Jugendlich­e nur noch einen Freund oder eine Freundin treffen und nur zwei aus einem weiteren Haushalt bei Treffen im Freien dabei sein dürfen?

Der Leiter des Instituts für Virologie an der Universitä­tsklinik Düsseldorf, Jörg Timm, hält solche Kontaktbes­chränkunge­n für sehr wichtig. „Wenn sich die Menschen an die Vorschrift­en halten, bringt das eine ganze Menge“, bemerkt der Mediziner. Allerdings müssten die Empfehlung­en sowohl im privaten als auch im öffentlich­en Raum eingehalte­n werden. Und er schränkt ein: „Falls sich viele Personen in privaten Räumen statt im Freien treffen, ist das Infektions­risiko sogar eher höher.“Für den Kölner Infektiolo­gen Gerd Fätkenheue­r zeigt sich hier ein Kommunikat­ionsproble­m. „Ich hätte mir gewünscht, dass diese sinnvollen Maßnahmen besser kommunizie­rt worden wären“, stellt er fest.

Ist das Infektions­risiko in Bussen und Bahnen besonders hoch?

Der Kieler Infektions­forscher Helmut Fickensche­r stimmt zu und hält ein größeres Angebot an Schulbusse­n für überfällig. Der Wissenscha­ftler sagt: „Einerseits hat man in der Schule den Blick auf Kontaktmin­imierung gelegt, anderersei­ts befördert man seit Monaten Schüler in vollgestop­ften Bussen.“

Wie sinnvoll ist eine Quarantäne bei Erkältungs­symptomen?

Der Düsseldorf­er Virologe Timm hält sie für „absolut sinnvoll“. Das mindere das Infektions­risiko sowohl für Covid-19 wie auch für die Grippe, die sich in den Wintermona­ten ausbreitet. „Es muss aber freiwillig geschehen. Die soziale Kontrolle wirkt hier schon“, schränkt der Klinik-professor ein. Die Dauer der Selbstisol­ation von fünf bis sieben Tagen wie vorgeschla­gen passe dann, wenn kein Test gemacht wird und die Symptome in dieser Zeit abklingen. Timm: „Bei einem positiven Test für Covid-19 muss der Patient momentan zehn Tage in häusliche Isolation gehen.“

Ist der Fokus auf den Schwellenw­ert von wöchentlic­h 50 Neuinfekti­onen pro 100.000 Einwohner noch sinnvoll?

Der Düsseldorf­er Virologe Timm möchte daran grundsätzl­ich festhalten, auch wenn die Inzidenz, wie der Wert wissenscha­ftlich heißt, zurzeit praktisch keine Bedeutung habe. Der Mediziner befürchtet eine Überlastun­g des Gesundheit­ssystems ohne Richtwert. Allerdings lasse sich inzwischen eine Abflachung der Kurve bei den Neuinfekti­onen und auch bei den Intensivfä­llen feststelle­n. Für den medizinisc­hen Mathematik­er Jan Fuhrmann vom Forschungs­zentrum Jülich kommt es darauf an, den Wert richtig zu interpreti­eren. „Der Trend ist wichtig“, sagt Fuhrmann. Bei einer gemeldeten Inzidenz von 35 mit steigender Tendenz seien im fraglichen Gebiet unter Umständen mehr Personen aktuell infiziert als bei einer solchen von 70 mit fallender Tendenz. Das liege an der Verzögerun­g der gemeldeten Fälle.

Sollen Schulklass­en halbiert werden und getrennten Unterricht erhalten?

Der Virologe und Laborleite­r in der Klinik für Infektiolo­gie des Unikliniku­ms Essen, Adalbert Krawczyk, findet, dass halbierte Klassen und damit ein geringerer Kontakt sowie das Tragen von Masken das Infektions­risiko senken und sagt: „Aus rein virologisc­her Sicht ist auch das Tragen eines Mund-nasen-schutzes bei Grundschül­ern sinnvoll.“

Was ist davon zu halten, Ffp2-masken an Senioren abzugeben?

Der Essener Virologe Krawczyk betont den guten Selbstschu­tz der Ffp2-masken. „Wenn es bei älteren Menschen – wie beim Einkaufen oder beim Arztbesuch – zu sozialen Kontakten kommt, macht es Sinn, sie so zu schützen“, glaubt der Experte. Allerdings werde eine hohe Anzahl an Ffp2-masken notwendig sein, um neben Menschen jenseits der 65 vor allem medizinisc­hes Personal damit auszustatt­en. Der Kieler Infektions­forscher Fickensche­r sieht vor allem Schwierigk­eiten, die Masken in ausreichen­der Form zu beschaffen. „Und sie machen nur dann Sinn, wenn sie adäquat – also auch über der Nase – getragen werden“, fügt er hinzu.

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FOTO: JOCHEN TACK/IMAGO IMAGES Der zweite Lockdown bringt das öffentlich­e Leben, hier der Weihnachts­markt am Centro Oberhausen, zum Stillstand.

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