Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Faul wie die Waschbären
ESSAY Ausgerechnet die Bundesregierung ruft jetzt junge Menschen in charmanten Videos dazu auf, in Pandemie-zeiten einfach mal nichts zu tun. Nicht überall kommt die Botschaft gut an. Kritikern hält die Regierung entgegen: Es sei „augenzwinkernd“gemeint.
Opa erzählt wieder mal vom Krieg. Es ist ein besonderer Krieg – gegen einen unsichtbaren Feind an einer unsichtbaren Front. Ein Winterfeldzug gegen die zweite Welle des Jahres 2020. Und die alten Menschen erzählen davon, wie sie den Krieg damals gewannen und allesamt zu Helden wurden. Weil sie das einzig Richtige taten: nämlich nichts!
Verschiedene Videos der Bundesregierung ermuntern seit dem Wochenende die Deutschen zum Aushalten, zum Nichtstun oder Faulenzen. Ausgerechnet! Dem gerühmten deutschen Fleiß wird ein Strich durch die Rechnung gemacht. Wo das einmal hinführen soll? Vielleicht zur Eindämmung der Pandemie.
Die Videos mit Geschichten aus der Zukunft sind gut gemacht, keine Frage. Und ein paar Irritationen gibt es obendrein. Warum beispielsweise das Mobiliar im Hintergrund der Erzähler so eigentümlich vertraut erscheint und nicht fantasievoll unsere vermeintlichen Wohnsituationen aus den Jahren um 2070 zeigt, bleibt unklar. Noch mehr aber staunt man über die betonte Kriegsmetaphorik. Vom Feind ist die Rede, von Helden, Waffen und Schicksal; und natürlich knüpft der Winterkrieg gedanklich an den deutschen Russlandfeldzug des Zweiten Weltkriegs an. Darf man das? Solche Scheu haben andere nicht. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron war es, der sein Land schon bei der ersten Welle in den Zustand einer Art Anti-mobilmachung versetzte, indem er im Frühjahr erklärte: „Wir sind im Krieg.“Während Kanzlerin Angela Merkel die Pandemie als die größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg bezeichnete. In einem der Videos heißt es passend dazu, dass die „Couch unsere Front“war.
Kulturmenschen denken bei diesem Zitat nicht allein an den Zweiten Weltkrieg, sondern auch an Ilja Iljitsch Oblomow, jenen großen Antihelden der Weltliteratur, der es als wohlhabender Gutsbesitzer vorzieht, die Welt und das Geschehen um ihn herum mit großer Vorliebe vom eigenen Bett aus zu betrachten. Ist eine moderne Oblomowerei also ein wirksamer Impfstoff gegen das Virus? Vielleicht nicht unbedingt in dieser künstlerisch freihändigen Variante wie in dem 1859 erschienenen Roman von Iwan Gontscharow.
Wer uns bei dieser Spurensuche lesend auch begegnet, ist der legendäre Kanzleischreiber Bartleby, eine Figur aus dem Frühwerk von Herman Melville (1819–1891). Die wurde berühmt dank ihrer höflichen Absage an jede Art der Beteiligung: „I would prefer not to“; ich möchte lieber nicht. Herzerfrischende Totalverweigerung mag nicht im Sinne des Video-erfinders, also der Bundesregierung sein. Vielmehr dürfte es um kontrollierte Nicht-erfüllung gehen, auch von Erwartungen und Vorgaben. Und die sind in unserer Leistungsgesellschaft hierzulande ohnehin ausgeprägt.
Es geht um kontrollierte Nicht-erfüllung, auch von Erwartungen und Vorgaben
Tätigkeit und Mobilität sind Grundpfeiler von Fortschritt und wirtschaftlichem Wachstum, doch beides birgt in der aktuellen Situation ein hohes, mitunter lebensbedrohliches Risiko. Dabei hat sich die sogenannte deutsche Emsigkeit tief ins Bewusstsein eingenistet und fand sprichwörtlichen Niederschlag: Ohne Fleiß kein Preis, heißt es. Oder auch: Wer rastet, der rostet. Schließlich: Sich regen bringt Segen. Soll plötzlich alles nicht mehr gelten, sagt die Bundesregierung. Die meint es in ihren Aufklärungsvideos nicht ganz so krass, und so findet sich das gute alte „augenzwinkernd“in den offiziellen Verlautbarungen wieder.
Dass die Regierung so etwas darf – zu diesem Thema und in dieser Zeit –, ist für manche wiederum unerhört. So wird in den sozialen Netzwerken kritisiert, dass Themen wie Einsamkeit, häusliche Gewalt oder Existenzängste in den Spots einfach keine Rolle spielen. Schlimm. Und dass die eigentlichen Helden der Pandemie doch die vielen Beschäftigten
im Gesundheitswesen seien. Noch schlimmer. Aber muss man gleich ein schlechtes Gewissen haben, wenn man an den bloß 90 Sekunden langen Videos Spaß hat? Zitiert sei an dieser Stelle der weise Aufruf des umtriebigen Zeitdiagnostikers Sascha Lobo, der die Mitmenschen jetzt darum bittet: „Lasst eure innere Abiturientenkonferenz einmal für zehn Minuten nicht raushängen.“
Das heißt: Gönnen wir uns das nette Video mit Anton Lehmann (ein leider deprimierend einfallsloser Name), dem ersten Helden der Video-reihe. Und dem im nächsten Clip plötzlich seine Frau Luise zur Seite gestellt wird, ebenfalls in der bewährten Alt-jung-doppelrolle und des noch bewährteren Lobgesangs aufs Nichtstun. Die beiden hauen sich aufs Bett und essen eklige Chicken-wings aus einem riesigen Pappeimer. Besonders unter den Aspekten von Ernährung und Verpackungsmüllproduktion ist auch das unter aller Kanone. Junge Menschen halt. Aber wenn es die Helden der Stunde sind, drücken wir gerne mal ein Auge zu. Und freuen uns, dass ausgerechnet unser Humor die Briten beeindruckt. Auf Twitter schrieb Henry Mance, ein Journalist der Londoner „Financial Times“: „Ich kann damit umgehen, dass die deutsche Antwort auf die Pandemie besser ist als unsere, aber ich glaube, ich kann nicht damit umgehen, dass sie lustiger ist.“
Man kann sich freuen oder aufregen, irgendwie unterhalten die Videos jedenfalls. Eins müssen wir als ausgewiesene Tierfreunde dann aber doch bemängeln: dass besagter Anton Lehmann behauptet, sie seien damals faul wie die Waschbären gewesen. Das ist nicht hinnehmbar. Waschbären sind nachtaktiv und darum nur tagsüber nicht sonderlich arbeitseifrig. Bestimmt wird es in Berlin bald eine Pro-waschbären-demo geben.
Link Die drei Videos der Bundesregierung #besonderehelden sind online unter www.bundesregierung.de/breg-de/ themen/coronavirus zu sehen.