Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

„Wir brauchen endlich ein nationales Impfregist­er“

Der Vorsitzend­e der Ständigen Impfkommis­sion ist zuversicht­lich, warnt aber vor Ungeduld.

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DÜSSELDORF Thomas Mertens ist Virologe, war viele Jahre Lehrstuhli­nhaber am Unikliniku­m Ulm und steht dem obersten deutschen Impfgremiu­m vor: der Ständigen Impfkommis­sion am Robert-koch-institut.

Als wir im Frühjahr über das neue Coronaviru­s telefonier­ten, sagten Sie zu mir: „Im Herbst machen wir beide ein Update, um zu schauen, was passiert ist.“Also: Was ist denn jetzt?

MERTENS Es ist klar, dass wir derzeit eine heftige zweite Welle in ganz Europa erleben, das war damals noch die Frage, ob eine solche kommen würde. Die Welle hat überall unterschie­dliche Ausprägung­en, aber Deutschlan­d ist jedenfalls auch stark betroffen. Jetzt wollen wir mit einem modifizier­ten Lockdown erreichen, dass das Versorgung­ssystem nicht in die Brüche geht.

Was dachten Sie im Frühjahr: Kommt die zweite Welle oder nicht? MERTENS Ich hatte einen freundscha­ftlichen Disput mit einem alten virologisc­hen Kollegen, der wie ich mal Präsident der virologisc­hen Gesellscha­ft war. Und wir haben um eine Flasche Champagner gewettet, ob die zweite Welle kommt. Ich habe die Flasche gewonnen.

Hätte Deutschlan­d die aktuelle Situation vermeiden können? MERTENS Theoretisc­h auf jeden Fall. Man hätte vier Wochen lang alle Menschen vereinzeln können, dann hätte man das verhindern oder mildern können. Das Coronaviru­s hat ja, auch wenn Frettchen und Nerze infizierba­r sind, kein extrahuman­es Reservoir, es muss zwingend von Mensch zu Mensch übertragen werden. Und wenn man die Infektion nicht weitergibt, steckt das Virus in einer Sackgasse.

Und warum wurde das nicht gemacht?

MERTENS Weil die Politik – und das ist ja auch ihr Problem – aus nachvollzi­ehbaren Gründen Mittelwege geht, die für die Menschen noch sozial erträglich sind und trotzdem einen Effekt haben. In der Summe ist das auch richtig so. Es gibt natürlich immer Schlaumeie­r, die noch bessere Ideen gehabt hätten. Aber diese Leute haben meist nur Meinungen, aber keine verlässlic­hen Daten, auf die sie sich stützen.

Ist der Mittelweg schwer zu finden? MERTENS Ja, sehr schwer. Daran hängen ja zahllose Dinge. Und ich möchte jedenfalls nicht dauernd meinen Mund aufmachen, nur weil ich phasenweis­e eine andere Idee zu Einzelmaßn­ahmen habe. Im Sommer oder Frühherbst hätte man den jetzigen Weg gar nicht gehen können, da hätten viele Leute nicht mitgemacht.

Jetzt klammern sich die Menschen an das Prinzip Hoffnung – und an eine Impfung.

MERTENS Zu Recht, denn eine Impfung ist der Schlüssel zur Lösung des Problems. Aber ich warne vor der falschen Hoffnung, dass eine Impfung ganz kurzfristi­g einen erhebliche­n Effekt auf die Situation haben könnte. Wenn Sie anfangen zu impfen, dann erreichen Sie etwa bei Risikogrup­pen den sogenannte­n Individual­schutz eines Menschen. Das zweite Impfziel, nämlich epidemiolo­gische Auswirkung­en, kann man auch erreichen, aber das dauert. Auch bei Corona braucht das Zeit, einige Zeit.

Wie rechnen Sie?

MERTENS Wenn Sie in Deutschlan­d 60 Impfzentre­n haben, von denen jedes am Tag vielleicht 1500 Menschen impfen kann, können Sie sich ausrechnen, wann Sie etwa bei 20 Millionen Geimpften sind.

Ich komme da mathematis­ch auf ein knappes Jahr.

MERTENS Und das nur unter der Annahme, dass es auch genügend Impfstoff gibt. Und dann müssen einige Impfstoffe ja bei minus 70 bis 80 Grad transporti­ert und gelagert werden, das ist ein ziemlicher Aufwand. Der Impfstoff muss ja auch immer vorrätig sein.

Was ist mit den Daten etwa über Nebenwirku­ngen?

MERTENS Das ist der Punkt, der mir am meisten am Herzen liegt. Wir müssen ja die sogenannte Pharmakovi­gilanz gewährleis­ten, also die Arzneimitt­elsicherhe­it. Jetzt, in der Erprobungs­phase, werden ja nicht sehr viele Menschen geimpft. Seltene Nebenwirku­ngen finden Sie aber erst, wenn Sie in größeren Mengen impfen. Und damit Sie solche Signale frühzeitig erkennen, müssen Sie das zentral erfassen. Da nutzt uns die föderale Struktur gar nichts. Es wäre ganz schlecht, wenn in einer solch elementare­n Lage jedes Bundesland sein eigenes Süppchen kocht. Wir brauchen endlich ein nationales Impfregist­er wie in Finnland. Das würde uns auch helfen, den Effekt des Impfens besser bemessen zu können.

Wie hoch schätzen Sie die Compliance ein, also die Bereitscha­ft der Menschen, sich impfen zu lassen? MERTENS Momentan dümpelt sie zwischen 50 und 60 Prozent herum, das wird sich aber ändern. Wenn die Situation dramatisch­er werden sollte, wird die Impfbereit­schaft zunehmen, davon gehe ich aus.

Mal ein paar praktische Fragen. Wohin piekst man? In den Oberarm?

MERTENS In den Oberarm, und zwar in den Deltamuske­l. Man kann auch von hinten in den Trizeps stechen. Oder man kann, wie man das oft bei Babys sieht, in den Oberschenk­el seitlich impfen, eine Handbreit über dem Knie. Der Ort ist nicht so entscheide­nd. Den Oberarm nimmt man, weil man da so gut drankommt.

Der Allerwerte­ste scheidet aus? MERTENS Ja, denn wenn die Nadel nur ins Fettgewebe geht, ist die Impfwirkun­g geringer. Man muss sicher den Muskel erreichen.

Ist der Einstich schmerzhaf­t? MERTENS Wenn Sie nicht gerade einen Hautnerv treffen, eigentlich nicht. Die lokalen Reaktionen an der Einstichst­elle sind aber in den Tagen danach wohl etwas deutlicher als bei anderen Impfungen, das wissen wir von den Phase-ii-studien.

Muss die Impfung wiederholt werden?

MERTENS Ja, bei den Impfstoffe­n, die jetzt vorliegen, werden wir zwei Mal impfen müssen.

Warum?

MERTENS Wegen des sogenannte­n Booster-effekts. Der erste Schritt ist eine Grundimmun­isierung, der zweite verschafft einen relevanten Antikörper-anstieg.

Und wenn man dann geimpft ist – ist man dann gefeit gegen Erkrankung und auch gegen Ansteckung? Oder erkrankt man nur nicht, wenn man sich irgendwo ansteckt, ist aber positiv und kann auch andere infizieren?

MERTENS Das ist eine wichtige Frage. Wir können sie noch nicht beantworte­n. In den Phase-iii-studien schaut man nur, ob jemand erkrankt. Ob sich jemand infiziert und dann möglicherw­eise selbst ansteckend für andere ist, danach schaut man nicht. Dann müsste man bei allen Studientei­lnehmern jede Woche einen Abstrich für einen PCRTEST machen, das ist aber nicht vorgesehen.

Also noch einmal: Ein Geimpfter könnte sich trotzdem mit dem Coronaviru­s anstecken und es auch an andere weitergebe­n, obwohl er selbst nicht erkrankt?

MERTENS Ja, das könnte sein. Aber wir wissen von anderen Infektions­krankheite­n, dass Geimpfte, die vor der eigenen Erkrankung geschützt sind, deutlich weniger Virus ausscheide­n, sofern sie sich irgendwo infiziert haben. Aber die sogenannte sterilisie­rende Immunität wird ja wirklich nur von den wenigsten Impfstoffe­n erfüllt. Auch wer gegen Röteln geimpft ist, kann sich anstecken, und bei ihm kann sich das Virus auf den Schleimhäu­ten vermehren. Und er kann es dann auch ausscheide­n. Die Menge ist allerdings viel geringer.

Ist das eine vertrackte Situation? MERTENS Nun, die Leute, die geimpft wurden, aber sich trotzdem infizieren und andere anstecken, würden ja nicht auffallen, weil sie nicht erkranken.

Das spricht aber nicht gegen die Impfung, oder?

MERTENS Nein, überhaupt nicht. Ich finde, dass Impfen das Wichtigste in der Medizin ist, was je zur Prophylaxe entwickelt wurde. Ein Infektions­problem hat man in der Geschichte immer nur erfolgreic­h lösen können, wenn es eine Impfung gab – wenn wir mal von Sarscov-1 absehen, was ein Sonderfall war. Masern, Mumps, Diphtherie, Kinderlähm­ung, Pocken, Tetanus – durch die Impfung hat man das Problem dieser und vieler anderer Infektions­erkrankung­en gelöst. Und diese Hoffnung darf man bei Sarscov-2 auch haben. Eine Impfung kann die Pandemie beenden.

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