Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Corona versetzt Familien in den Ausnahmezustand
Seit acht Monaten bestimmt die Pandemie den Alltag von Eltern, Kindern und Jugendlichen. Weniger Sport, weniger Freunde, weniger Kurse in der Freizeit. Das Leben der Generation Corona reduziert sich auf das Wesentliche. Mit Konsequenzen.
DÜSSELDORF Seit acht Monaten ist für Kinder, Jugendliche und Familien alles anders. Abstand heißt das Gebot der Stunde. Neue Einschränkungen könnten in dieser Woche hinzukommen. „Wir führen ein reduziertes Leben“, sagt Lennart Dentzer, der im kommenden Jahr sein Abitur machen will. Über die Folgen der Dauer-Pandemie, die alles verändert, machen sich Eltern, Heranwachsende und Kinderschützer viele Gedanken. Droht am Ende eine „Generation Corona“mit bleibenden Defiziten?
Weniger ist mehr, lautet die Vorgabe mit Blick auf die sozialen Kontakte. Wieder einmal. Denn der Sommer mit Lockerungen und dem Gefühl, man habe es fast schon geschafft, blieb nur ein Intermezzo. „Meine Kinder haben seit mehr als einem Monat ihre Großeltern nicht mehr gesehen, die sind an die 70, wir müssen vorsichtig sein“, sagt Michail Knauel. Seine Tochter Eva ist sechs, ihre Schwester Nora drei Jahre alt. Beide Seiten würden sich „unendlich vermissen“. Sonst habe man sich mindestens einmal pro Woche gesehen, obwohl Knauels Eltern im Sauerland leben. Die bange Frage in vielen Telefonaten lautet: „Werden wir Weihnachten gemeinsam feiern können?“Für Knauel, der auch Sprecher der Düsseldorfer Kita-Eltern ist, ist ein Total-Ausfall kaum vorstellbar. „Es muss und es wird Lösungen geben“, sagt er mit einem Hauch von Trotz in der Stimme.
„Ich vermisse die Schule, weil da meine Freunde sind, und die Fußballspiele. Und die Videokonferenzen, bei denen wir Aufgaben besprechen, finde ich nicht so toll“, sagt Henry. Der Neunjährige wohnt in Grafenberg, geht in die dritte Klasse. Normalerweise. Denn seit vergangenem Dienstag ist er – wie seine ganze Klasse – in Quarantäne, weil seine Lehrerin positiv auf das Coronavirus getestet wurde. „Gut, dass wir einen kleinen Balkon haben“, sagt seine Mutter Nele Flüchter. Normalerweise trainiert ihr Sohn zwei Mal die Woche im Fußballverein und hat zusätzlich ein Spiel. Doch das ist schon seit drei Wochen gestrichen. Stattdessen kickte er vor seiner Quarantäne ab und zu mit Vater Falko. Ein wirklicher Ersatz ist das nicht. „Kinder sind ja viel schneller unterwegs, und am Ende geht es ja vor allem auch um Freundschaft mit Gleichaltrigen und den Teamgeist“, sagt seine Mutter.
Den Sport vermisst auch Lennart Dentzer. Fußball beim TV Angermund, Leichtathletik und Fitness-Studio waren für den angehenden Abiturienten am Georg-Büchner-Gymnasium in Golzheim der ideale Ausgleich zum Lernen. Jetzt hat er sich Hanteln und Therabänder fürs Jugendzimmer gekauft, um wenigstens etwas für den Körper zu tun. Dass er nicht kicken kann, versteht er: „Elf Leute beim Training oder 22 beim Spiel, Kontaktsport geht halt mit Corona nicht“, sagt er. Aber es kommt noch etwas Gravierendes hinzu: Fast alles, was junge Menschen in seinem Alter gerne machen, ist gestrichen. Partys,
Treffen mit Cliquen, Geburtstage – nichts davon findet statt. „Ich treffe fast ausschließlich die gleichen beiden Freunde – das Leben ist irgendwie minimiert, es wird auf das Wesentliche reduziert“, sagt der 20-Jährige. Gedanken macht er sich um sein Abitur. Noch laufe alles in geordneten Bahnen. Aber was passiert, wenn die Schulen doch noch mal schließen müssten: Das mag er sich lieber nicht vorstellen. „Wir haben noch nicht alle Lernrückstände aus dem ersten Lockdown aufholen können, ein zweites Mal können wir uns mit Blick aufs Abi nicht leisten.“
Um möglicherweise bleibende Defizite macht sich auch Nele
Flüchter Gedanken. Eigentlich sollte ihre Tochter Anouk (5), die gerade Schwimmen lernt, in Kürze ihr Seepferdchen-Abzeichen machen. „Doch der Kurs liegt auf Eis und ich glaube nicht, dass er vor Weihnachten noch einmal startet“, sagt Flüchter, die sich seit Monaten in der Initiative „Familien in der Krise“engagiert. „Wir fragen uns schon: Bleibt von dieser Corona-Krise etwas hängen, was nicht mehr nachgeholt werden kann?“, sagt die 38-Jährige, die Pädagogin ist und mit Berufsschülern arbeitet. Bei Kindern und Jugendlichen gebe es Entwicklungsfenster, in denen bestimmte Fortschritte stattfinden sollten. „Verpasst man den Punkt, bleiben häufig Lücken.“
Das schätzt Bettina Erlbruch, Geschäftsführerin des Kinderschutzbundes, ähnlich ein. Am Kummertelefon, das vor allem von Heranwachsenden ab zwölf Jahren genutzt wird, gehe es immer häufiger um die Themen Einsamkeit und Isolation. Große Aufregung habe es in der vergangenen Woche um den Vorschlag der Politik gegeben, Kinder und Jugendliche sollten in den nächsten Wochen nur noch zu einem Freund oder zu einer Freundin Kontakt haben. „Die Drähte liefen heiß“, sagt sie. Die Folgen der Pandemie-Monate beschreibt die Kinderschützerin mit dem Wort „Brennglas-Effekt“. Vor allem in Familien, die in einer finanziell oder sozial angespannten Situation seien, verstärkten sich die Probleme. „Früher trank der Vater in der Kneipe, jetzt tut er es zu Hause – das kann rasch zu neuen Reibungen führen“, sagt Erlbruch. Ihr Eindruck: Auch Anfragen zu Selbstverletzungen und zu Suizid-Absichten haben zugenommen. Belastbare Zahlen dazu hat sie aber nicht. „Die wird es erst im kommenden Jahr geben.“