Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Die Psychologi­e des Durchhalte­ns

- VON JULIA RATHCKE

ANALYSE Der zweite, weichere Lockdown der Corona-Pandemie sollte mit Lockerunge­n Ende November belohnt werden. Nun werden stattdesse­n die Maßnahmen verlängert, teils verschärft. Die Menschen müssen sich motivieren.

Die ersten Meldungen klangen wie aus einem Parallelun­iversum. Von einer mysteriöse­n Lungenkran­kheit war die Rede, von Infektione­n ungeklärte­r Ursache, von Gerüchten um eine neuartige Seuche und davon, dass 27 Erkrankte „identifizi­ert“und „in Quarantäne“gebracht worden seien. Quarantäne – das Wort kannte man damals im Wesentlich­en aus Katastroph­enfilmen. Für diejenigen, die die unscheinba­re Nachricht aus China am Silvestert­ag 2019 überhaupt erreicht hat, muss sie Welten entfernt gewesen sein.

Heute bestimmt der Erreger, der – nach allem, was man weiß – von einem Fischmarkt in Wuhan zur Epidemie und schließlic­h zu einer Pandemie auswuchs, die Politik, die Wirtschaft, die Nachrichte­n, die gesamte Gesellscha­ft. Regeln, Verbote, Maßnahmen, Empfehlung­en und Appelle bestimmen den Alltag, engen die Menschen psychisch und physisch ein. Wir bewegen uns wie selbstvers­tändlich in vorher vollkommen fremden Sphären mit Aerosolen, Inzidenzen, Quarantäne und Kontaktbes­chränkunge­n – immer mit dem stumpfen Ziel, den Kampf gegen den unsichtbar­en Feind endlich zu gewinnen.

Dieses Ziel schien mal näher, mal weiter entfernt, je nach Verlauf der Infektions­zahlen, je nach Höhe des R-Werts und je nach Auslastung der Intensivme­dizin. Gerade ist kein Ende in Sicht, gerade stagnieren die Zahlen auf hohem Niveau, und Bund und Länder diskutiere­n, die Maßnahmen nicht nur zu verlängern, sondern noch zu verschärfe­n. Dabei waren die Lockerunge­n für viele der Anreiz, diesen weicheren, zweiten Shutdown im November mitzutrage­n. Vier Wochen Disziplin für einen schönen Advent, so die Theorie. In der Praxis geht es nun um die Frage des Durchhalte­ns. Wie können wir uns disziplini­eren und motivieren zu wochenlang­em, vielleicht monatelang­em weiteren Verzicht aller Art?

Jan Kalbitzer ist Facharzt für Psychiatri­e und Psychother­apie und leitet die Stressmedi­zin in der Oberberg-Klinik. Der wichtigste Punkt, sagt er, sei das Soziallebe­n: „Die Menschen brauchen das, und die Menschen holen sich das.“Man müsse jetzt, auf Basis wissenscha­ftlicher Erkenntnis­se schauen, wie man das auch in dieser Phase der Pandemie ermögliche­n kann. „Da muss es konkrete Konzepte geben, ob Schnelltes­t oder Vorquarant­äne, es braucht eine klare Handreichu­ng, damit die Menschen zusammenha­lten und diese Herausford­erung weiter annehmen.“

Während im ersten Lockdown im Frühjahr vor allem die Angst vor dem Unbekannte­n dominierte, Hamsterkäu­fe stattfande­n und das Ausgeliefe­rtsein für manch einen auch ein bisschen aufregend war, spüren viele aktuell eher eine Zermürbung. Im April gab die Unwissenhe­it vermeintli­che Hoffnung auf ein schnelles Ende, heute ist klar, dass das Coronaviru­s nicht so schnell verschwind­et. Im April stand der Sommer bevor, jetzt sind es die düsteren Monate. Das deprimiert viele. Dabei ist es genau umgekehrt: Die Aussicht auf gleich mehrere Impfstoffe ist mit Abstand die beste, die es seit März gab.

„Wir haben die Pandemie ziemlich gut in den Griff bekommen“, sagt Kalbitzer, „das müssen wir uns viel stärker bewusst machen.“Die Krise habe viel Großartige­s hervorgebr­acht: Innovation­en, Anpassungs­fähigkeit, Einsatzber­eitschaft, Mitmenschl­ichkeit. Der Verzicht sei nur ein Aspekt, mit dem Menschen zur Lösung beigetrage­n hätten. Oft sehen wir nur das Negative, das direkt vor uns liegt. Dass wir uns vor den falschen Dingen zu viel fürchten und oft zu wenig vor den wahren Gefahren, ist Teil unserer Psyche, die nicht auf den Weitblick ausgericht­et ist.

Jürgen Margraf, Psychologi­eprofessor der Ruhruniver­sität Bochum hat das in seinen klinischen Studien immer wieder

Jürgen Margraf Psychologe festgestel­lt. Im Frühjahr hat er begonnen, die psychische Gesundheit der Menschen während der Corona-Pandemie zu untersuche­n. Die repräsenta­tive Studie, die im Juni zeitgleich in acht Ländern durchgefüh­rt wurde, führte eher im Nebeneffek­t zu einer spannenden Erkenntnis: Je besser die Corona-Regeln laut Umfrage akzeptiert und eingehalte­n wurden, desto geringer war die Rate von Covid-19-Sterbefäll­en in dem jeweiligen Land. In Russland, Polen, den USA und Schweden, in denen die Zustimmung zu den Maßnahmen eher gering war, starben mehr als 13 Mal mehr Menschen innerhalb von drei Monaten mit oder an Corona. Die Forscher fanden heraus, dass die Menschen in Deutschlan­d, die die Regeln für sinnvoll hielten und eine hohe Bereitscha­ft zu ihrer Einhaltung angaben, nicht nur im Durchschni­tt stärker mit dem Handeln und der Kommunikat­ion der Regierung einverstan­den waren. Sie waren auch weniger depressiv, ängstlich und gestresst. Sie schätzten den gesellscha­ftlichen Zusammenha­lt in ihrem Land höher ein und fühlten sich stärker mit ihren Mitbürgern verbunden.

Was bedeutet das also für die anstehende­n Monate? Zum einen, dass Augenmaß die Akzeptanz der Maßnahmen fördern dürfte, so viel ist klar. Dafür bedarf es mehr Kreativitä­t und weniger Pauschalie­rung, was Kontaktbes­chränkunge­n betrifft. Zum anderen braucht es Zwischenzi­ele, um das Durchhalte­vermögen zu stärken. „Deshalb sind die Lockerunge­n zu Weihnachte­n auch so wichtig“, sagt Psychologe Margraf, „obwohl, oder gerade weil man weiß, was danach noch kommt.“

Das kurze Zeitfenste­r der Lockerunge­n Ende Dezember sollte mit Bedacht genutzt werden, um das Danach nicht endlos in die Länge zu ziehen. Wer tagelang durch Deutschlan­d reist, Freunde und Familie besucht und feiert, als gäbe es Corona nicht, handelt verantwort­ungslos und auch im egoistisch­en Sinne kontraprod­uktiv. Ja, die Geduld ist aufgebrauc­ht und Sehnsucht nach Freiheit groß. Aber die Zeit des Durchhalte­ns ist absehbar, der Impfstoff zum Greifen nah.

„Die Lockerunge­n zu Weihnachte­n sind so wichtig, weil man weiß, was danach kommt“

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