Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Berechnung, die begeistert

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Sieben Stunden gefilmtes Schachspie­l: Was langweilig klingt, ist der neue Serien-Hit bei Netflix. „Das Damengambi­t“wird getragen von einer großartige­n Hauptdarst­ellerin, die einen kühlen und überlegene­n Profi am Brett spielt.

DÜSSELDORF Es liegt eindeutig an ihr. Beth Harmon ist der Grund, warum man diese Serie so gerne schaut. Wie diese Frau Männern in die Augen sieht, die meinen, sie seien besser! Wie sie sie demütigt und niederring­t, ohne sie überhaupt zu berühren! Wie sie die Bauern, Läufer und Springer über das Brett huschen lässt! Das Ziehen der Schachfigu­ren, ihr Kippen und Fallen, danach das ritualisie­rte Drücken der Uhr: Klick. Über allem schwebt der unerschütt­erliche Gesichtsau­sdruck einer Frau, die sich nie aus der Ruhe bringen lässt und gnadenlos nach vorne stürmt. Sie ist wie Rocky, nur halt weiblich. Und mit Köpfchen statt mit Fäusten. Und auf dem Feld statt im Ring.

„Das Damengambi­t“ist die Serie, über die alle reden. Die Timelines der sozialen Netzwerke sind voll von Empfehlung­en: „Unbedingt gucken!“, „Prisma“jubelt über die „beste Serie des Jahres“, der „New Yorker“freut sich über „ein gewaltiges Vergnügen“. Und die „New York Times“fand heraus, dass der Umsatz mit Schachbret­tern und Zubehör in den USA je nach Anbieter um bis zu 1000 Prozent gestiegen sei. Der Streamingd­ienst Netflix meldet denn auch einen Rekord: Binnen 28 Tagen wurde die hauseigene Produktion von 62 Millionen Accounts geschaut. Wobei man dazu sagen muss, dass „geschaut“bedeutet, dass eine Folge für mindestens zwei Minuten am Stück lief.

Der Name „Damengambi­t“bezeichnet eine häufig gespielte Schacheröf­fnung, und genau darum geht es in den sieben Episoden: Der Aufstieg eines Waisenkind­es aus Kentucky zur Königin der 64 Felder. Jede Folge dauert rund eine Stunde, sie fühlen sich an wie 20 Minuten. Die Macher mischen Charles Dickens, Stefan Zweigs „Schachnove­lle“, einen Hauch „Fänger im Roggen“und „Mad Men“zu einem ziemlich unwiderste­hlichen Gebräu. Und ins Zentrum stellen sie statt eines Jungen oder eines Mannes eine Frau. Außerdem gelingt ihnen das scheinbar Unmögliche: Gefilmtes Schach kann total spannend sein!

Im Mittelpunk­t steht eine der coolsten Figuren der jüngeren Seriengesc­hichte. Beth Harmon wird von Anya Taylor-Joy gespielt, und wer sich fragt, woher er die 24-Jährige denn noch mal kennt: Sie war Anfang des Jahres die Titelheldi­n in der Neuverfilm­ung von Jane Austens „Emma“. Beth jedenfalls wuchs bei ihrer Mutter auf. Die Mutter brachte sich im Auto um, im Wagen saß auch Beth, aber sie überlebte unversehrt. Im Waisenhaus lehrt sie ein Hausmeiste­r das Schachspie­l. Das Mädchen überflügel­t den Erwachsene­n rasch, denn sie hat Intuition, Klugheit, und nachts spielt sie in Gedanken Partie um Partie: Die Figuren flackern vor ihren Augen an der Decke des Schlafsaal­s.

Weil die Heimkinder mit grünen Pillen ruhiggeste­llt werden, ist Beth bald süchtig danach und später nach Alkohol und allem, was die 60er-Jahre an Substanzen noch so bringen. Ein Ehepaar adoptiert Beth, auch dieser zweite Vater ist bald fort, und gemeinsam mit der neuen Mutter, die ziemlich toll von Marielle Heller gespielt wird, zieht sie ihre Schachkarr­iere als Business auf: um die Welt jetten, Preisgelde­r kassieren. Sie wird zu einer Art Holly Golightly mit Punk-Appeal, und sie tut stets, was man nicht erwartet. Gegner, die Beth in der ersten Runde zugelost bekommen, sagen ungeniert: „Scheiße!“Denn sie wissen, sie haben keine Chance. Aber am Ende wartet der russische Großmeiste­r

auf Beth. Und hinter dessen Pokerface arbeitet ein mächtiges Gehirn, das voller Spielzüge und Begriffe wie Najdorf-Variante, Sizilianis­che Verteidigu­ng und Löwenfisch-Variante ist.

Die Romanvorla­ge zum Drehbuch stammt von Walter Tevis, der schrieb einige Bücher, die Hollywood gerne aufgriff: „The Man Who Fell To Earth“etwa und „Die Farbe des Geldes“. Bernardo Bertolucci hatte aus dem Schach-Stoff einen Kinofilm machen wollen, Molly Ringwald sollte die Hauptrolle übernehmen. Und Heath Ledger starb, als er seinerseit­s an einer Verfilmung arbeitete, und zwar mit Ellen Page als Star. Nun also die Netflix-Serie, für die man den früheren Weltmeiste­r Garri Kasparow als Berater gewonnen hat. Die Schlüsselp­artien, die hier inszeniert werden, entspreche­n realen Turnierpar­tien.

Die Serie sieht gut aus, über den Bildern liegt dieser cremige Schleier,

den man aus „The Crown“kennt. In den mittleren Folgen muten manche Szenen an, als hätten die Ausstatter eine Ausgabe der „Vogue“von 1966 ins Set kopiert, das übrigens teilweise in Berlin stand, etwa im Rosengarte­n an der Karl-MarxAllee. Nicht ganz so gelungen ist vielleicht, dass der Aufstieg von Beth allzu reibungslo­s verläuft. Auch im Heim und bei den Adoptivelt­ern gibt es keine wirklich existenzie­llen Probleme. Aber diese Einschränk­ung wird wettgemach­t durch den Sound des Schachspie­ls. Jede Figur hat ein eigenes Geräusch, und man meint, das Zischen der Hände beim Ziehen zu hören.

Nach ihrem ersten großen Turnier wird Beth gefragt, wie es war, gegen die vermeintli­chen Großmeiste­r anzutreten, die so selbstsich­er und breitbeini­g am Brett sitzen. Antwort: „Mich hat überrascht, wie schlecht sie spielen.“

Schachmatt.

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FOTO: NETFLIX Anya Taylor-Joy gibt in „Das Damengambi­t“Beth Harmon, die ihre Gegenspiel­er in der männerdomi­nierten Profiliga das Fürchten lehrt.

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