Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Wer darf zuerst geimpft werden?
Im Dezember soll der Impfstoff kommen. Streit gibt es um die Frage, wer ihn als als erstes erhält. Alte, Junge oder systemrelevante Arbeitnehmer? Gewerkschaften fordern Vorfahrt für Ärzte, Pfleger, Polizei, Lokführer und Erzieher.
DÜSSELDORF Das Jahr könnte hoffnungsvoll enden. Die Ministerpräsidenten jedenfalls sind optimistisch, dass noch im Dezember der erste Corona-Impfstoff erhältlich sein wird. Weil zunächst aber nicht genug davon vorhanden sein dürfte, entbrennt die Diskussion, wer als erster geimpft wird. NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) hat klare Vorstellungen: Wenn sich der Impfstoff für ältere und vorerkrankte Menschen eignen sollte, dann werde jede Ethikkommission empfehlen, dass zunächst diese Personen geimpft werden. „Das sind in NRW fast 800.000 Menschen.“175.000 davon lebten in Altenheime – da stelle er sich das Impfen einfach vor. „Wenn es nach mir ginge, würde ich das Personal auch gleich mitimpfen, dann sind wir schon bei 350.000 Menschen.“Hinzu kämen 600.000 Pflegebedürftige, die zu Hause lebten.
Doch so eindeutig, wie Laumann sich das vorstellt, ist die Sache nicht. Auf die Frage, ob man Ältere oder Jüngere zuerst impfen solle, sagte der Chef der Techniker Krankenkasse, Jens Baas, unserer Redaktion: „Eine heikle Frage, die in der Gesellschaft diskutiert werden muss. Impft man die Älteren zuerst, weil sie ein hohes Risiko haben, schwer zu erkranken? Oder impft man die Jüngeren zuerst, die vielleicht wegen ihrer vielen Kontakte Superspreader sind?“Der Chef der größten deutschen Krankenkasse mahnt: „Das muss man emotionsfrei diskutieren und nur danach entscheiden: Womit rette ich die meisten Menschen?“
Bezogen auf Berufsgruppen will Laumann zuerst das medizinische Personal impfen lassen –und zwar „sowohl in den Altenheimen, als auch in den Krankenhäusern und in den Arztpraxen“. Da gehe es allein in NRW um mehr als eine Million Menschen. Der große Vorteil sei, dass sich diese Institutionen selbst impfen könnten und nicht zu einer Belastung für das System der Impfzentren führe. Zudem nannte Laumann „Strukturen wie die Polizei“.
Das hört man bei der Gewerkschaft der Polizei (GdP) gerne. Deren Landes-Chef Michael Mertens nannte es „zwingend erforderlich“, dass die Polizei zur ersten Impfgruppe gehöre. „Wer berufsbedingt in den Nahkörperkontakt muss, sollte sich darauf verlassen können, dass der Dienstherr ihn auch ausreichend schützt.“Mertens fordert eine Impfung aber nicht nur für die Beamten im Streifendienst: „Die Polizei ist in Gänze systemrelevant. Es darf keine Unterscheidung zwischen Beamten und Tarifbeschäftigten bei der Impfung geben.“Alle 50.000 Beschäftigten der Polizei müssten schnellstmöglich geimpft werden. „Eine interne Priorisierung ist möglich, sollte aber in den Dienststellen vorgenommen werden“, sagt er.
Wenn sich die Impfungen nach der Systemrelevanz, rückt der öffentliche Dienst in den Fokus. Gabriele Schmidt, NRW-Landeschefin der Gewerkschaft Verdi, erklärte, bei einer Abwägung müsse neben denjenigen, die ein hohes Risiko tragen, besonders auf die geschaut werden, deren Arbeit ein hohes Risiko berge: „Dazu zählen neben Beschäftigten in den Krankenhäusern, Senioreneinrichtungen
und Gesundheitsämtern auch die Beschäftigten von Kindertageseinrichtungen und Schulen.“Hier könnten Maßnahmen wie das Abstandsgebot oft nur eingeschränkt angewendet werden. Den Betriebsfrieden sieht Schmidt nicht gefährdet: „Wir gehen davon aus, dass ganze Betriebe voll umfassend zeitgleich geimpft werden“, sagt sie. In einer Kita sollten dann beispielsweise nicht nur die Erzieher, sondern auch das Reinigungspersonal geimpft werden.
Die GEW-Chefin von NRW, Maike Finnern, fordert: „Wenn Bildung in Schulen und Kitas weiter gewährleistet sein soll, muss der Gesundheitsschutz für Lehrkräfte und Erzieherinnen oberste Priorität haben. Beide Berufsgruppen müssen schnellstmöglich geimpft werden können.“
Zur Daseinsvorsorge dient auch der Verkehrssektor. Claus Weselsky, Chef der Lokführergewerkschaft
GDL, sagte unserer Redaktion, um den Verkehr auf der Schiene auch in Pandemie-Zeiten aufrechtzuerhalten, sei das gesamte direkte Personal aller Eisenbahnverkehrs- und Infrastrukturunternehmen gefordert. „Es ist daher systemrelevant.“Neben Lokomotivführern und Zugbegleitern gehörten dazu auch Fahrdienstleiter und Werkstattmitarbeiter. „Wir geben zwar keine Impfempfehlung, da Impfungen im persönlichen Freiheitsbereich der Menschen angesiedelt sind und weder von der Politik noch von Arbeitgebern angeordnet werden dürfen. Wenn das direkte Personal jedoch eine Corona-Impfung wünscht, dann hat sie kostenfrei und prioritär zu erfolgen“, forderte der GDL-Chef.
Die Gewerkschaften werden es schwer haben, Vorfahrt für ihre Mitglieder durchzusetzen. Denn Ethikrat, Ständige Impfkommission (Stiko) und Wissenschaftler der Leopoldina haben unlängst einen
Vorschlag gemacht. Danach sollen drei Gruppen zuerst an die Reihe kommen: Menschen, die das höchste Risiko für einen schweren oder tödlichen Covid-Verlauf haben; Menschen, die sich um Covid-19-Kranke kümmern und sich dadurch hohen Risiken für die eigene Gesundheit aussetzen, etwa das Personal in Altenheimen und Krankenhäusern. Und diejenigen, die zur Aufrechterhaltung der Gesellschaft nötig sind, wie Feuerwehr, Polizei, Lehrer und Erzieher. Doch schon diese drei Gruppen umfassen viel mehr Menschen, als zunächst geimpft werden können. Laut Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) zählen allein bis zu 40 Prozent in Deutschland zur Risikogruppe, weil sie alt, vorerkrankt oder beides sind. Allein 23 Millionen Einwohner sind über 60 Jahre alt. Bis Jahresende soll die Stiko nun detaillierte Vorschlage machen. Dann muss die Politik schwere Entscheidungen treffen.