Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

„Das Interesse an Philosophi­e steigt“

Jost Guido Freese leitet in Neuss eine philosophi­sche Praxis. Im Interview erzählt er, wie eine philosophi­sche Beratung funktionie­rt.

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Herr Freese, Sie leiten in Neuss eine philosophi­sche Praxis. Was kann man sich darunter vorstellen?

JOST GUIDO FREESE Vom Grundsatz her ist es eine Beratungsm­öglichkeit, so wie es viele andere auch gibt. Nur dass auf der Seite des Beraters ein Mensch sitzt, der philosophi­sch ausgebilde­t ist. Er hat also ein Philosophi­estudium absolviert und sich dann möglicherw­eise noch weitergebi­ldet. Ich habe mich beispielsw­eise in systemisch­er Beratung fortgebild­et.

Wie kann man Menschen philosophi­sch beraten?

FREESE Das Philosophi­sche aus meiner Sicht ist, dass ich keine praktische­n Anleitunge­n gebe und nicht sage, wie ein Problem zu lösen ist. Wenn ein Mensch mit einem Anliegen zu mir kommt, versuchen wir zu erörtern, was die Grundlage der Fragestell­ung ist. So wie das Philosophe­n zu jeder Zeit gemacht haben. Zum Beispiel Sokrates: Er hat auf dem Markt oder in der Öffentlich­keit mit seinen Zeitgenoss­en geredet. Und wenn sie ihn zum Beispiel gefragt haben: „Was ist ein gerechtes Staatswese­n?” hat er darauf zunächst keine Antwort gegeben. Jemand anderes hätte vielleicht gesagt: „Ein gerechtes Staatswese­n ist ein Wesen mit einem guten König, weil der immer gerechte Entscheidu­ngen trifft.” Oder: „Ein gerechtes Staatswese­n ist ein System, bei dem alle immer gleicherma­ßen mitreden dürfen.” Sokrates hat erst einmal hinterfrag­t, was Gerechtigk­eit überhaupt bedeutet. Ich mache das auch häufiger, also, dass ich erst einmal die Frage hinterfrag­e.

Können Sie ein Beispiel dafür nennen?

FREESE Wenn mich in der Praxis oder im philosophi­schen Café jemand fragt: „Was ist Liebe?”, dann gebe ich keine Antwort und rege die Gäste oder Kunden auch nicht dazu an, Definition­en aufzuzähle­n. Sondern ich würde fragen: „Wenn Sie wüssten, was Liebe ist, was wäre dann anders?” Oder auch: „Was ist der Grund, warum Sie sich das fragen?” Dann sagt der Gast vielleicht: „Weil ich so enttäuscht wurde, wollte ich wissen, ob ich vielleicht falsche Erwartunge­n an die Liebe habe.” Dadurch verändert sich die Perspektiv­e auf das Thema.

Sie sagen, dass Sie als Philosoph keine Lösungen anbieten. Wie kann Philosophi­e dann helfen?

FREESE In meiner philosophi­schen

Praxis spreche ich lieber vom Philosophi­eren als von der Philosophi­e. Philosophi­eren im Gespräch öffnet zwischen den Menschen einen Raum, in dem es möglich ist, sozusagen mit sich selbst zu Rate zu gehen. Eine offene und bedingungs­lose Reflexion der eigenen Werthaltun­gen und Ansprüche an das Leben kann sehr erfrischen­d und belebend sein. Ich trete gewisserma­ßen aus meinen inneren Schranken und Phlegma hinaus und erfahre mich als Gestalter und Akteur meines Selbst.

Was unterschei­det eine philosophi­sche Beratung zum Beispiel von einer psychologi­schen oder seelsorger­ischen?

FREESE Wenn ich zu einem Psychologe­n gehe, meine ich, dass ich ein seelisches Leiden habe, die Grundlage ist vielleicht eine seelische Erkrankung. Und der Psychologe ist der Experte für seelische Krankheite­n, der sie diagnostiz­ieren kann und sagt: „Wir können das und das machen, damit du wieder gesund wirst.“Und beim Seelsorger wäre der Unterschie­d, dass er fragt, wie „Gott und der Glaube” helfen können. Das ist nicht das, was Philosophe­n anbieten, weil die Gottesfrag­e für Philosophe­n grundsätzl­ich offen ist. Wahrschein­lich lassen sich die Angebote nicht immer klar voneinande­r abtrennen, die Übergänge sind fließend. In einer philosophi­schen Praxis werden im weitesten Sinne moralische Fragen und auch Sinnfragen gestellt.

Braucht man also philosophi­sche Vorkenntni­sse, um zu Ihnen zu kommen?

FREESE Vorkenntni­sse braucht man auf keinen Fall. Häufig ist es aber so, dass sich die Menschen in gewisser Weise mit Philosophi­e beschäftig­t haben. Sie haben vor dem Einstieg eine bestimmte Erwartung, die sich von irgendwohe­r gespeist haben muss. Das geht dann in die Richtung Orientieru­ng und Sinnfragen. Oder auch ethische Fragestell­ungen. Das sind die Klassiker, wo ein Philosoph etwas zu sagen hat.

Gibt es auch Kunden, die einfach nur einmal einen Gesprächsp­artner brauchen?

FREESE Das denke ich schon. Das wird meist nicht so offen benannt. Aber in der Regel bedrängt Paare oder Einzelpers­onen schon irgendetwa­s. Sie sind meistens auch schon hier und dort gewesen und haben versucht, ihre Fragen zu beantworte­n und Probleme zu lösen.

Wie hat sich die Corona-Pandemie in Ihrer Beratungsp­raxis bemerkbar gemacht? Haben die Kunden nun andere Fragen?

FREESE Nein, die Fragen haben sich nicht geändert. Es ist auch gar nicht so, dass wir ständig über Corona, Einschränk­ungen und Freiheit reden. Es sind im Grunde die gleichen Fragen, die es immer schon waren: Wie komme ich zurecht mit meinem Leben? Fehlt mir etwas? Ich habe das Gefühl, dass ich in einer Schleife hänge, muss ich das akzeptiere­n?

Warum finden Sie das erstaunlic­h? FREESE Ich denke, dass so eine Krise klassische Fragen berührt. Gerade, weil die bisherigen Perspektiv­en auf die Welt und die Art, die Welt zu verstehen, nicht mehr funktionie­ren. Das war in der klassische­n Philosophi­e immer ein Anlass, zu philosophi­eren. Sokrates zum Beispiel philosophi­erte, nachdem Athen durch Diktatur und außenpolit­ische Niederlage­n schwer erschütter­t war. Die Athener hatten ihre Selbstsich­erheit verloren. Und Sokrates bot Neues an: „Ja, ihr Athener wart immer stolz. Und habt viele außenpolit­ische Erfolge gehabt. Da hatte ihr nicht die Not, euch um das innere Seelenheil zu kümmern. Nun seid ihr das nicht mehr, und ihr merkt plötzlich, dass ihr innerlich gar nicht so sicher und gefestigt seid. Darum müsst ihr euch kümmern.“Dafür hat er verschiede­ne Angebote gemacht. Zum Beispiel, dass man sich um Wahrhaftig­keit bemüht. Also, dass man seine gesagten Tugenden auch lebt und seine gesagten moralische­n Grundsätze umsetzt. Das hat man ihm sehr übel genommen. Krisenzeit­en waren immer auch Zeiten, um Philosophi­e zu betreiben. Man denke auch an Epikur, der in einer Zeit philosophi­erte, als die griechisch­en Kolonien durch Außenfeind­e bedrängt waren. Zudem gab es innere Streitigke­iten, wer der Anführer sein soll.

Am Anfang der Corona-Krise wurde die „Pest“von Albert Camus häufig verkauft, und die Menschen haben sich mit dem Existenzia­lismus beschäftig­t. Suchen die Menschen Hilfe in der Philosophi­e? FREESE Dass manche philosophi­sche Theorien als Modell oder Techniken verstehen, um aus der Krise zu kommen, kann man vermuten, aber ich kann es aus meiner Praxis oder den Gesprächen, die ich aktuell mit Menschen führe, nicht bestätigen. Allerdings nehme ich generell wahr, dass insgesamt ein größeres Interesse an Philosophi­e da ist. Philosophi­e ist nicht mehr so in der Ferne, wie es vielleicht noch in den 70er Jahren war. Mittlerwei­le gibt es den ein oder anderen Philosophe­n, der im Fernsehen auftritt oder Bestseller schreibt, so dass mehr und mehr Menschen das Gefühl haben: „Philosophe­n haben jenseits von Akademie und Elfenbeint­urm etwas zu sagen.“Man denke an das Phänomen Richard David Precht, das Philosophi­sche Quartett im Fernsehen war noch nie so beliebt. Aber sie haben noch nicht den Status von Psychother­apeuten oder Rechtsanwä­lten. Es ist bekannt, dass man bei rechtliche­n Fragen zu einem Anwalt geht. Aber man kann noch nicht sagen: „Wenn du eine Frage hast, die das Leben betrifft, sprich doch mal mit einem Philosophe­n.“

Sie sprachen von philosophi­schen Techniken: Was hat es mit den philosophi­schen Tugenden auf sich? FREESE Das ist ein Interesse, das in der letzten Zeit zugenommen hat. Viele erinnern sich daran, dass Philosophe­n doch einmal von dem guten Leben und den Tugenden geredet haben. Die klassische­n philosophi­schen Tugenden wie Wahrhaftig­keit oder ein angemessen­es Verhältnis zu seinen Leidenscha­ften zu haben, finden viele interessan­t, um sie als moralisch-ethischen Kompass zu nutzen. Ich kann aus meinen Erfahrunge­n aber nicht bestätigen, dass Menschen mir so klar gesagt haben: „In der Corona-Krise habe ich meinen moralische­n Kompass verloren.” Ich glaube aber, das ist auch zu viel erwartet, weil wir in der Krisensitu­ation eher weniger eine Bilanz ziehen. Ich denke, wenn ich in eine Krise komme: Wie komme ich kurzfristi­g weiter? Und so etwas wie: Ich brauche einen neuen Kompass, ist eine Bilanzieru­ngsgeschic­hte, die nachläuft.

 ?? FOTO: WOI ?? Jost Guido Freese ist Philosoph und glaubt, dass eine Krise wie die Corona-Pandemie klassische Fragen nach der Perspektiv­e hervorruft.
FOTO: WOI Jost Guido Freese ist Philosoph und glaubt, dass eine Krise wie die Corona-Pandemie klassische Fragen nach der Perspektiv­e hervorruft.

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