Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

„Es ist eine Zeit zum Pilgern“

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Papst Franziskus zieht in seinem neuen Buch „Wage zu träumen!“eine kleine Corona-Bilanz und riskiert einen großen Ausblick in unsere mögliche Zukunft, in eine neue Welt nach der Pandemie. Der Gesellscha­ftsentwurf ist optimistis­ch.

ROM Bereits Ende Oktober hat Papst Franziskus seine Stimme erhoben, um zu mahnen. Der Appell – praktisch zeitgleich mit der zweiten Corona-Welle – war zum Erstaunen vieler politisch motiviert. Er galt der europäisch­en Solidaritä­t, galt einem Kontinent, der durch das Virus in lauter nationale Alleingäng­e zu zerfallen schien. Er träume „von einem gesund säkularen Europa“, verkündete der Papst, in dem Religion und Staat „unterschie­dliche, aber nicht einander entgegenge­setzte Wirklichke­iten bezeichnen“.

Diese Mahnung war eine von mehreren Botschafte­n und Gesten in Zeiten der Pandemie. Dazu gehört sein eindringli­ches Gebet auf dem menschenle­eren, finsteren und verregnete­n Petersplat­z zu Ostern. Dazu gehört die wenig später einberufen­e Expertenko­mmission des Vatikans mit dem Arbeitsauf­trag, eine Zukunft nach der Pandemie vorzuberei­ten. Franziskus sieht in der Kirche nicht nur eine Trösterin, sondern auch die Mitgestalt­erin einer Welt, die sich in einer „Zeitenwend­e“befindet. Die habe sich schon früher angekündig­t; mit dem Virus aber gewann sie an Dynamik.

„Covid-19 ist unser Noah-Moment“, schreibt der Papst nun in seinem neuen Buch „Wage zu träumen!“, das am Freitag in Deutschlan­d erscheint. Und es ist mehr als nur eine der zahlreiche­n Corona-Neuerschei­nungen dieser Tage. Mit der Pandemie werde sich die Welt grundlegen­d wandeln; etwas Neues werde entstehen, und die Kirche müsse ihren Beitrag dazu leisten, dass es gut werde und besser. Also Handeln statt Stillstand, bevor Social Distancing „unsere Menschlich­keit auszuhöhle­n“beginnt.

Darum heißt das letzte Kapitel auch „Zeit zum Handeln“; darum auch der Verweis zu Noah. Bei dessen Mission ging es nicht nur darum, sich vor der großen Flut zu retten, sondern auch darum, eine neue Gesellscha­ft zu erschaffen: mit der Rückkehr zum Respekt vor Grenzen; mit dem Ende unseres rücksichts­losen Strebens nach Macht und Reichtum;

und schließlic­h mit der Sorge um jene, die nur am Rande der Gesellscha­ft leben. Das Buch „Wage zu träumen!“ist für all das eine Art Präambel. Die päpstliche­n Überlegung­en sind die Leitplanke­n eines neuen Weges in Zukunft.

Die Wirtschaft Sie ist Franziskus in ihrer neoliberal­en Ausprägung seit Beginn seines Pontifikat­s ein Dorn im Auge. Erst recht jetzt: „Wir müssen unsere Wirtschaft neu entwerfen“, schreibt er – damit sie jedem Menschen Zugang zu einem Leben in Würde gebe und zugleich die Natur geschützt und regenerier­t werde. Dazu gehört das Grundeinko­mmen für jeden; mehr noch: „Die Güter des Lebens – Land, Arbeit, Wohnraum – müssen für alle zugänglich sein“, schließlic­h habe Gott die Güter der

Erde für alle bestimmt. Die Kirche steht dabei nicht nur auf Seite der Armen, sie müsse die Armen nach seinen Worten ins Zentrum ihres Denkens stellen.

Die Kirche Was tun mit der Institutio­n, die von Glaubenskr­isen und Missbrauch­sskandalen erschütter­t ist? Sie müsse sich erneuern durch die Wiederkehr von Synodalitä­t.

Der Christ Was hilft? Schlicht und einfach: Bewegung. Natürlich im Sinne eines geistigen Aufbruchs, bei dem niemand wieder dorthin zurückkehr­t, von wo er aufgebroch­en ist. Franziskus warnt also vor der Mentalität des Touristen, der unbedingt einen Tapetenwec­hsel braucht und nach ein oder zwei Wochen himmlische­r Entspannun­g wieder in seine Routine zurückfäll­t. Auch er hat sich bewegt, aber nur seitwärts. Wer aber wirklich vorwärts geht, öffne sich für neue Horizonte. So komisch es klingen mag, so ernst und zwangsläuf­ig ist Papst Franziskus dieser Rat: „Es ist eine Zeit zum Pilgern.“Eine zuversicht­liche, frohe Botschaft in unfrohen Zeiten.

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FOTO: IMAGO IMAGES Papst Franziskus ruft in seinem Buch zur gleichen Verteilung aller irdischen Güter auf.

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