Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Wirtschaft als Story
Der US-Ökonom Robert J. Shiller will Wirtschaftstheorie im Alltag verankern und sie in Narrative fassen.
Robert J. Shiller, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften 2013, hat sein Buch „Narrative Economics. How Stories Go Viral and Drive Major Economic Events“2019 veröffentlicht. Die Corona-Pandemie war noch nicht ausgebrochen. 2020, beim Lesen der deutschen Übersetzung, stößt ein Vergleich der Verbreitung von Mundpropaganda mit medizinischen Epidemien auf eine aktuelle Gemengelage beim Verständnis wissenschaftlicher Erkenntnisse. Für Shiller folgt dieser Vergleich seiner Forderung nach interdisziplinärer Forschung, basierend auf der „Einheit des Wissens“. Dazu müssen die Wirtschaftswissenschaften Einsichten aus der Soziologie, Anthropologie, Psychologie, dem Marketing, der Psychoanalyse und der Religionswissenschaft aufnehmen. Die Geschichtsschreibung muss erkennen, dass sie auch auf Narrativen beruht.
Auf dieser methodologischen Grundlage basieren die Kernaussagen Shillers: Narrative, die wirtschaftliche Ereignisse auslösen können, „gehen viral“, ökonomische Vorgänge lassen sich von Narrativen „anstecken“. Shillers Bemühen ist es, diese Ansteckung in die Wirtschaftstheorie einfließen zu lassen. Dabei haben zeitbezogenen Kurven derartiger Narrative wie Pandemien einen U-förmigen Verlauf.
Modelle von Epidemien, die auf ökonomische Narrative anzuwenden wären, werden im Anhang methodisch erklärt. Für seine Narrativ-Kurven hat Shiller mit einer Software Zeitungsartikel und Werbeanzeigen bis zum Jahr 1700 zurückverfolgen lassen. Zwei exemplarische Beispiele stellt er heraus: die Bitcoin-Narrative und die Laffer-Kurve. Die mathematischen Grundlagen von Kryptowährungen verstünde kaum jemand, aber Bitcoins werden gekauft, weil das für kosmopolitisch empfindende
2008. Schließlich sind die Antipoden der Verteilungskämpfe zu erwähnen: Boykotte, Profiteure und böse Unternehmen sowie die Lohn-Preis-Spirale und die bösen Gewerkschaften.
Robert Shiller zeigt an vielen Beispielen, wie diese Narrative immer wieder in Form von Storys mit oft persönlichen Bezügen erzählt werden. Dabei folgen sie bestimmten Schlüsselprinzipien: Narrative Epidemien können schnell oder langsam sein, groß oder klein. Allerdings beanspruchen wichtige ökonomische Narrative nur einen kleinen Anteil der Alltagsgespräche. Sie können in Konstellationen auftreten und haben dann mehr Auswirkungen als jedes einzelne Narrativ. Ihre ökonomischen Auswirkungen können sich mit der Zeit verändern und ihre Ansteckung baut auf Möglichkeiten auf, sie zu wiederholen. Narrative gedeihen, wenn man sie mit etwas verbindet – Human Interest, Identität und Patriotismus. Dann können selbst Fakten – wie im Fall des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump – falsche Narrative nicht stoppen.
Shiller sieht, dass ohne Kenntnis des Einflusses von Narrativen effektive ökonomische Prognosen und eine erfolgreiche Wirtschaftpolitik nicht möglich sind. Es ist sein Vorschlag, derartige Narrative systematisch zu erforschen, gestützt auf immer weiter verbesserte digitale Technologien. So können sie in die Wirtschaftstheorie integriert werden. Bei alldem geht es Shiller darum, der menschlichen Realität hinter ökonomischen Ereignissen näherzukommen.