Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Die Wandlungen des ewigen Partisanen
Kommunistischer Ersatzkönig: Eine neue Tito-Biografie handelt von Jugoslawiens mystifizierter Ikone.
Sein jugoslawisches Lebenswerk liegt seit Jahrzehnten in Trümmern. Aber dennoch beschäftigt der frühere Partisanenführer Josip Broz „Tito“auch 40 Jahre nach seinem Tod nicht nur in seinem zerfallenen Reich die Gemüter. Die Historikerin Janine-Marie Calic hat eine neue Biografie des Staatenlenkers verfasst, „der für seine Lebensanschauung sein Leben riskierte und Tausende ermorden ließ“: Als typisches „Geschöpf des Zeitalters der Extreme“beschreibt sie Jugoslawiens mystifizierte Ikone.
„Tito – Der ewige Partisan“lautet der Titel der packenden Biografie, das sich mit den Wandlungen von Jugoslawiens „kommunistischem Ersatzkönig“beschäftigt: vom katholischen Messdiener aus armen Verhältnissen zum Revolutionär, Guerillakämpfer und stalinistischen Autokraten, bis hin zum moderaten Reformkommunisten und gefeierten Staatsmann – auch auf dem internationalen Parkett.
Die Biografie ist in der Reihe „Diktatoren des 20. Jahrhunderts“erschienen. Aber eine schwarz-weiße Abrechnung mit der Ära Tito ist das Buch genauso wenig wie eine Verklärung des Schöpfers des sozialistischen Jugoslawiens. „Kurven und Kehren“hätten das Leben des Menschen geprägt, der „zum Guten wie zum Bösen fähig“gewesen sei, so die Autorin.
Zugänglich und plastisch erzählte Geschichte ist das Markenzeichen der Historikerin, die mit der „Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert“(2010) und „Südosteuropa. Weltgeschichte einer Region“(2016) bereits zwei Standardwerke zum besseren Verständnis des Vielvölkerlabyrinths verfasst hat. Ob sie die von Hunger geprägte Jugend des Bauernsohns oder die Wandlung des in Russland inhaftierten Kriegsgefangenen zum kommunistischen Agitator im nach dem Ersten Weltkrieg geschaffenen Königreich Jugoslawien beschreibt: Gekonnt bettet die Autorin den Werdegang des Schlossers in dessen historischen Kontext ein.
Besonders spannend sind die Kapitel über den Zweiten Weltkrieg zu lesen, in dem sich Tito als erfolgreicher Partisanenführer gegen die drückend überlegene Wehrmacht der deutschen Besatzer bereits zu Lebzeiten zur Legende machte. Den blutigen Abrechnungen in den Monaten nach Kriegsende mit kroatischen Ustascha- und serbischen Tschetnik-Angehörigen sowie den willkürlichen Todesurteilen gegen vermeintliche Staatsfeinde setzte Tito mit einem Machtwort zwar ein Ende. Er hatte diese mit der Schaffung einer Geheimpolizei nach sowjetischen Vorbild aber auch selbst ausgelöst.
Schon vor und während des Zweiten Weltkriegs war Titos Verhältnis zu Stalin keineswegs spannungsfrei. Sein Bruch mit Moskau 1948 sollte dem späteren Protagonisten der Bewegung der unabhängigen Staaten nicht nur Militärhilfen und Kredite des Westens bescheren, sondern auch zu einer Liberalisierung und Dezentralisierung führen. Die Vertreibung der deutschen Minderheit wird genauso thematisiert wie die Verbannung innenpolitischer Gegner auf die Strafinsel Goli Otok und die spätere Liquidierung von Regimegegnern in der Diaspora. Doch von einer totalitären Diktatur konnte laut Calic nur bis 1953 die Rede sein.
Statt auf die „Keule der Repression“zu setzen, habe der „weiche Autokrat“Ventile geöffnet, um „Druck aus dem System abzulassen“. Seit den 1960er-Jahren genossen die Jugoslawen nicht nur Reisefreiheit, sondern dank Industrialisierung und Krediten auch einen ungekannten Wohlstand: Um den Zusammenhalt des Vielvölkerstaats zu wahren, habe Tito nicht auf harten Zentralismus gesetzt, sondern den Republiken stets mehr Befugnisse eingeräumt.
Ohne Tito hätte es vermutlich kein zweites Jugoslawien gegeben, ist Calic überzeugt: 35 Jahre lang habe er „mit Überzeugung und Repression“für „ein mehr oder weniger gedeihliches Zusammenleben der jugoslawischen Völker“gesorgt. Doch nach seinem Tod 1980 waren die nationalistischen Zentrifugalkräfte im hochverschuldeten Vielvölkerstaat nicht mehr zu bändigen. Posthum liege über Tito „der Schatten des bitteren Scheiterns“.