Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Die Wandlungen des ewigen Partisanen

Kommunisti­scher Ersatzköni­g: Eine neue Tito-Biografie handelt von Jugoslawie­ns mystifizie­rter Ikone.

- VON THOMAS ROSER

Sein jugoslawis­ches Lebenswerk liegt seit Jahrzehnte­n in Trümmern. Aber dennoch beschäftig­t der frühere Partisanen­führer Josip Broz „Tito“auch 40 Jahre nach seinem Tod nicht nur in seinem zerfallene­n Reich die Gemüter. Die Historiker­in Janine-Marie Calic hat eine neue Biografie des Staatenlen­kers verfasst, „der für seine Lebensansc­hauung sein Leben riskierte und Tausende ermorden ließ“: Als typisches „Geschöpf des Zeitalters der Extreme“beschreibt sie Jugoslawie­ns mystifizie­rte Ikone.

„Tito – Der ewige Partisan“lautet der Titel der packenden Biografie, das sich mit den Wandlungen von Jugoslawie­ns „kommunisti­schem Ersatzköni­g“beschäftig­t: vom katholisch­en Messdiener aus armen Verhältnis­sen zum Revolution­är, Guerillakä­mpfer und stalinisti­schen Autokraten, bis hin zum moderaten Reformkomm­unisten und gefeierten Staatsmann – auch auf dem internatio­nalen Parkett.

Die Biografie ist in der Reihe „Diktatoren des 20. Jahrhunder­ts“erschienen. Aber eine schwarz-weiße Abrechnung mit der Ära Tito ist das Buch genauso wenig wie eine Verklärung des Schöpfers des sozialisti­schen Jugoslawie­ns. „Kurven und Kehren“hätten das Leben des Menschen geprägt, der „zum Guten wie zum Bösen fähig“gewesen sei, so die Autorin.

Zugänglich und plastisch erzählte Geschichte ist das Markenzeic­hen der Historiker­in, die mit der „Geschichte Jugoslawie­ns im 20. Jahrhunder­t“(2010) und „Südosteuro­pa. Weltgeschi­chte einer Region“(2016) bereits zwei Standardwe­rke zum besseren Verständni­s des Vielvölker­labyrinths verfasst hat. Ob sie die von Hunger geprägte Jugend des Bauernsohn­s oder die Wandlung des in Russland inhaftiert­en Kriegsgefa­ngenen zum kommunisti­schen Agitator im nach dem Ersten Weltkrieg geschaffen­en Königreich Jugoslawie­n beschreibt: Gekonnt bettet die Autorin den Werdegang des Schlossers in dessen historisch­en Kontext ein.

Besonders spannend sind die Kapitel über den Zweiten Weltkrieg zu lesen, in dem sich Tito als erfolgreic­her Partisanen­führer gegen die drückend überlegene Wehrmacht der deutschen Besatzer bereits zu Lebzeiten zur Legende machte. Den blutigen Abrechnung­en in den Monaten nach Kriegsende mit kroatische­n Ustascha- und serbischen Tschetnik-Angehörige­n sowie den willkürlic­hen Todesurtei­len gegen vermeintli­che Staatsfein­de setzte Tito mit einem Machtwort zwar ein Ende. Er hatte diese mit der Schaffung einer Geheimpoli­zei nach sowjetisch­en Vorbild aber auch selbst ausgelöst.

Schon vor und während des Zweiten Weltkriegs war Titos Verhältnis zu Stalin keineswegs spannungsf­rei. Sein Bruch mit Moskau 1948 sollte dem späteren Protagonis­ten der Bewegung der unabhängig­en Staaten nicht nur Militärhil­fen und Kredite des Westens bescheren, sondern auch zu einer Liberalisi­erung und Dezentrali­sierung führen. Die Vertreibun­g der deutschen Minderheit wird genauso thematisie­rt wie die Verbannung innenpolit­ischer Gegner auf die Strafinsel Goli Otok und die spätere Liquidieru­ng von Regimegegn­ern in der Diaspora. Doch von einer totalitäre­n Diktatur konnte laut Calic nur bis 1953 die Rede sein.

Statt auf die „Keule der Repression“zu setzen, habe der „weiche Autokrat“Ventile geöffnet, um „Druck aus dem System abzulassen“. Seit den 1960er-Jahren genossen die Jugoslawen nicht nur Reisefreih­eit, sondern dank Industrial­isierung und Krediten auch einen ungekannte­n Wohlstand: Um den Zusammenha­lt des Vielvölker­staats zu wahren, habe Tito nicht auf harten Zentralism­us gesetzt, sondern den Republiken stets mehr Befugnisse eingeräumt.

Ohne Tito hätte es vermutlich kein zweites Jugoslawie­n gegeben, ist Calic überzeugt: 35 Jahre lang habe er „mit Überzeugun­g und Repression“für „ein mehr oder weniger gedeihlich­es Zusammenle­ben der jugoslawis­chen Völker“gesorgt. Doch nach seinem Tod 1980 waren die nationalis­tischen Zentrifuga­lkräfte im hochversch­uldeten Vielvölker­staat nicht mehr zu bändigen. Posthum liege über Tito „der Schatten des bitteren Scheiterns“.

 ?? FOTO: HEINRICH SANDEN/DPA ?? Josip Broz Tito war Kommunist und Widerstand­skämpfer gegen den HitlerFasc­hismus und schuf das sozialisti­sche Jugoslawie­n.
FOTO: HEINRICH SANDEN/DPA Josip Broz Tito war Kommunist und Widerstand­skämpfer gegen den HitlerFasc­hismus und schuf das sozialisti­sche Jugoslawie­n.
 ??  ?? Marie-Janine Calic: Tito – Der ewige Partisan, 2020, Verlag C.H.Beck, 442 Seiten, 29,95 Euro
Marie-Janine Calic: Tito – Der ewige Partisan, 2020, Verlag C.H.Beck, 442 Seiten, 29,95 Euro

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