Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Nuklearmacht oder Appeasement
Der Historiker Andreas Lutsch veröffentlichte eine fulminante Studie zur nuklearen BRD-Sicherheitspolitik.
Was ist eigentlich „nukleare Teilhabe“? Die SPD will sie abschaffen, die Nato erklärt, sie schütze Frieden und Freiheit, und die CDU glaubt, dass alles beim Alten bleibt. Damit ist die Frage aber nicht beantwortet. Antworten, wohlgemerkt im Plural, gibt ein neues Buch, das durchaus das Zeug zum Klassiker hat: Andreas Lutschs voluminöses Werk „Westbindung oder Gleichgewicht?“. Die wichtigsten Ergebnisse:
1. Nukleare Teilhabe bedeutet weder das Recht noch die Fähigkeit, über einen Atomwaffeneinsatz mitzuentscheiden – auch nicht auf eigenem Territorium.
2. Entscheidend für die nukleare Teilhabe und Ausgangspunkt jeder deutschen Nuklearpolitik ist und bleibt der Atomsperrvertrag.
3. Dieser Vertrag lässt Deutschland nur die Alternative, unter dem US-Nuklearschirm zu bleiben oder schutzlos zu werden.
4. Wichtigster „Nebeneffekt“des Sperrvertrages ist bis heute, dass er auch eine europäische Nuklearstreitmacht verbietet.
5. Sollte der erweiterte US-Nuklearschirm eines Tages nicht mehr existieren, dürften weder Deutschland noch die EU einen eigenen Nuklearschirm aufbauen, ohne vorher den NV-Vertrag zu kündigen.
6. Unter der sozial-liberalen Koalition wurde die Adenauersche Politik bedingungsloser Westbindung durch eine Gleichgewichtspolitik unter Einschluss politischer Entspannung mit dem Osten abgelöst. Diese Gleichgewichtspolitik geriet durch die Aufstellung sowjetischer nuklearer Mittelstreckenwaffen aus dem Gleichgewicht und begann ihr verteidigungspolitisches Fundament zu verlieren.
7. Hintergrund waren seit der nuklearen Parität auf strategischer Ebene wachsende Zweifel an der Glaubwürdigkeit des US-Nuklearschutzes für Westeuropa.
8. Klare Auswirkungen auf das deutsche nuklearstrategische Denken hatten kurzfristig die neue operative Einschätzung von nuklearen Gefechtsfeldwaffen und längerfristig die grundsätzliche Einschätzung von Atomwaffen in Europa.
9. Bei diesem Prozess wurde militärisches Gleichgewicht gegenüber dem Ausgleich mit dem Osten nachrangiger.
10. Unter Druck des erstarkenden linken Flügels seiner Partei musste Kanzler Schmidt immer stärker taktieren, bis die SPD ihm schließlich die politische Unterstützung entzog.
Fazit: Das halbe Land, in diesem Fall die alte BRD, musste mit vielen Halbheiten leben. Diese Zeiten sollten vorbei sein. Dies darf aber kein Grund sein, jetzt das Kind mit dem Bade auszuschütten. Jedenfalls nicht in einer Welt, die wieder zunehmend von Konflikten nuklearer Großmächte bestimmt wird.