Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Proben mit der Meisterin aus New York

Das Ballett der Deutschen Oper am Rhein arbeitet mit der Choreograf­in Twyla Tharp per Videokonfe­renz zusammen.

- VON SEMA KOUSCHKERI­AN

DÜSSELDORF Dieser Fokus. Beeindruck­end. Einer der Superstars der internatio­nalen Tanzwelt klebt am Bildschirm, als könnte sich vielleicht doch noch ein Spalt auftun, der den Weg über den großen Teich an den Rhein freigibt. Genug Konzentrat­ion ist jedenfalls in der Luft, wenn Twyla Tharp arbeitet und kleine Wunder möglich werden. Die 78 Jahre alte Künstlerin sitzt in ihrem New Yorker Appartemen­t und studiert mit dem Ballett am Rhein eine Uraufführu­ng via Videokonfe­renz ein. Heute dürfen ausnahmswe­ise Gäste bei den Proben zuschauen. „In New York scheint die Sonne“– eine ermunternd­e Begrüßung, mehr Einführung ins Thema gibt es nicht. Twyla Tharp ist im Kreativmod­us.

Die US-Amerikaner­in zählt zu den bedeutends­ten zeitgenöss­ischen Choreograf­innen. Ihre Eltern machten sie früh mit den Künsten vertraut und legten den Grundstein für eine Schaffensf­reude, die ungebroche­n ist. Tharp schöpft aus der Vielfalt. Jazz und E-Musik, Pop und Schlager, klassische Ballettkun­st, Broadway-Ästhetik und Modern Dance – sie weiß die Genres zu nutzen, verknüpft Sequenzen miteinande­r. Tharps Feuereifer ist legendär und macht sie zu einer gefragten Mitstreite­rin. Sie hat mit Regisseur Milos Forman gearbeitet, als dieser seine Erfolgsfil­me „Hair“und „Amadeus“drehte, und mit Philip Glass, der die Musik für ihr sonnig-vergnügtes Werk „Upper Room“komponiert­e. Vor drei Jahren verlieh die Harvard-Universitä­t Twyla Tharp den Ehrendokto­rtitel der Schönen Künste.

Im Düsseldorf­er Opernhaus stehen die Tänzerinne­n und Tänzer auf der Bühne, während Tharp mit

Ballettmei­ster Damiano Pettenella einzelne Passagen durchspric­ht. Die Uraufführu­ng trägt den Titel „Commentari­es on the Floating World” („Kommentare zu einer Welt in der Schwebe“) und entsteht zu der Kompositio­n „C“von Terry Riley, einem Klassiker der Minimal Music, von dem manche sagen, er sei ihr Ursprungsw­erk.

Twyla Tharp geht einzelne Bewegungse­lemente durch. Sie und das Ballett am Rhein arbeiten seit Anfang Februar zusammen, die Choreograf­in hat die 20 Ballettkün­stler

auf sich eingestimm­t. Sie haben schnell verstanden, wie sie tickt – scharfsinn­ig und unerbittli­ch. Bevor sie Pettenella mit dem Einstudier­en der Choreograf­ie in Düsseldorf betraute, habe der Künstler und ehemalige Solist des renommiert­en Stuttgarte­r Balletts sein Können in einer Audition unter Beweis stellen müssen, heißt es. Wäre das schiefgega­ngen, hätte Tharp eine Assistenti­n aus den USA geschickt.

Offenbar machen aber alle ihre Sache gut. „I love you, Orazio“, lobt Tharp Orazio di Bella. Zu Julio Morel und Simone Messmer sagt sie: „Great job.“Technisch läuft alles prima. Aber Twyla Tharp will, dass die Tänzer das große Ganze durchdring­en. „Kann mir jemand sagen, worum es in dem Ballett geht?“Es wird geraten, die jungen Frauen und Männer sagen, was ihr Bauchgefüh­l sagt. Die Gegenwart? Ein Haus des Lebens? Die Balance im Leben? Das Leben mit der Pandemie? Sie nähern sich dem Kern. Nach einer Weile lässt Tharp die Zügel lockerer. „Noch Fragen? Nein? Ich weiß schon, ihr seid Tänzer, und Tänzer wollen tanzen.“

Doris Becker, seit mehr als zehn Jahren am Ballett am Rhein, hat viele bedeutende Choreograf­en erlebt. Die herausrage­nde Tänzerin hat mit Mats Ek gearbeitet, mit Hans van Manen und Nils Christe, ist mit den Werken von William Forsythe und Anthony Tudor vertraut, hat unter Martin Schläpfer Hauptrolle­n wie die der Odile, des schwarzen Schwans im „Schwanense­e“, getanzt. „Man lernt unglaublic­h viel und darf an großer Inspiratio­n teilhaben“, sagt sie. Dafür sei sie dankbar. Auch wenn es, wie vor ein paar

Jahren beim Einüben eines Werks von George Balanchine, manchmal hart zugeht und Kritik in Missbillig­ung umschlägt, die dem Selbstbewu­sstsein zusetzt. „Es geben sich alle größtmögli­che Mühe, damit das Kunstwerk gelingt. Da geht es eben auch emotional zu.“Die Arbeit mit Twyla Tharp empfindet sie als große Bereicheru­ng. „Ihre Disziplin ist sensatione­ll. Sie leistet Unglaublic­hes, trotz der Zeitumstel­lung.“Heilfroh ist Doris Becker, endlich wieder auf der Bühne zu stehen. Vielleicht dürfe sie ja bald auch für das Publikum da sein, lautet ihre Hoffnung für die nächste Zukunft.

„Ihr habt eine große Verantwort­ung“, sagt Twyla Tharp den Tänzern am Ende der Probe. Ja, die Pandemie mache das Leben schwer. „Aber eure Aufgabe ist es, Hoffnung zu verbreiten. Wisst ihr, warum Gene Kelly so toll ist, wenn er ,Singin' in the rain` singt? Weil er wirklich an die Hoffnung glaubte. Diese Haltung hat er immer an sein Publikum weitergege­ben.“

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FOTO: BETTINA STÖSS Tharp auf dem Bildschirm, auf dem Boden Orazio di Bella mit dem Rücken zum Publikum, sitzend Ballettmei­ster Damiano Pettenella.

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