Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Die Regierung in der Krise
Angela Merkel hat die richtigen Worte gewählt – große Worte. Die Kanzlerin hat öffentlich einen Fehler eingestanden und die alleinige Verantwortung übernommen. Manche ihrer Vorgänger haben um größere Fehler weniger Aufhebens gemacht. Für ihren geraden, klaren Auftritt gebühren ihr Respekt und Wertschätzung. Es geht ihr immer noch um die Sache, und sie zeigt Demut vor ihrem Staatsamt. Ein starker Moment.
Ruhetage wird es also doch nicht geben. Aber ist es damit getan? Eigentlich geht es um mehr als den einen Fehler, der sich korrigieren lässt. Die gibt es überall. Aber hier zeigt sich, wie sehr das System MPK, also die Corona-Beratungen von Bund und Ländern, zunehmend ein effektives Regierungshandeln verhindert. In kürzester Zeit zerbröselte ein mühsam zurechtgedengelter Kompromiss, den vom ersten Moment an niemand verstehen konnte, auf dem aber alles aufbaute.
„Sechs Tage sollst du arbeiten, am siebten Tag sollst du ruhen“, heißt es in der Bibel. War das die Art von Ruhetag, die der Bundeskanzlerin vorschwebte? Also ein freier Tag für die meisten und ein Arbeitstag mit Sonntagszuschlag für viele? Offenbar nicht. Bereits am Gründonnerstag sollte es ihn geben, aber nichts war geklärt, offenbar nicht einmal angedacht. Was für ein Chaos! Entscheidend ist weniger, dass der Kompromiss nichts taugte, sondern dass sich die Bundeskanzlerin überhaupt genötigt sah, ihn zu schließen. rnsthaftigkeit und ehrliche Besorgnis lassen sich ihr nicht absprechen. Seit mehr als einem Jahr mahnt sie die Deutschen, besonnen zu handeln. Auch am Anfang lief nicht alles glatt. Aber Fehler waren nicht zu verhindern. Wenn Wissenschaftler sich nicht einig sind und ihre Meinung auch noch wechseln, sind die daraus folgenden Entscheidungen gelegentlich falsch. Dass Masken zunächst nicht empfohlen wurden, gehört in dieses Kapitel. Aber hinterher ist man immer schlauer.
„Wir werden einander viel verzeihen müssen“: Für diese erste Zeit gilt der Satz von Jens Spahn uneingeschränkt. Und damals, als noch nicht geimpft werden konnte, waren Abstand und Hygiene, Lockdown und Wirtschaftshilfen die richtigen Mittel. Deutschland meisterte die ersten Monate vorbildlich. Aber das letzte halbe Jahr? Die Gesundheitsämter, noch nicht im digitalen Zeitalter angekommen, mussten die Nachverfolgung von Infektionsketten aufgeben. Die Schulen, jedenfalls die meisten, bemühten sich mit aller Macht, Distanzunterricht zu ermöglichen, aber im Ergebnis scheiterten auch sie. Die Testkapazitäten reichten und reichen nicht annähernd. Und dann das größte Debakel: Ausgerechnet in dem Land, in dem der erste zugelassene Impfstoff erfunden wurde, ist nicht genug davon da, bis heute nicht. as alles ist eben nicht nur ein Fehler. Stößt das System Merkel der klug austarierten Kompromisse an seine Grenzen? Oder ist es das föderale System, das knirscht? Jedenfalls scheinen die Interessen der Ministerpräsidenten Einigungen in großer Runde zu erschweren. Dass der neue CDU-Vorsitzende Armin Laschet eine führende und einende Rolle übernähme, lässt sich nicht erkennen. Unterm Strich funktioniert die staatliche Bekämpfung der Pandemie in Deutschland nicht mehr gut. Wie die steigenden Inzidenzzahlen zeigen, hilft es da auch wenig, bestehende Regeln, die nicht ausreichend eingehalten werden, stetig zu verschärfen. Eigenverantwortliches Handeln lässt nach, wenn der Staat seine Aufgaben nur mäßig erfüllt.
Regierungskrise – das ist ein Begriff, der nicht leichtfertig gewählt werden sollte. Deutschland ist nicht Italien, in aller Regel wird hier bis zum Ende der Legislaturperiode regiert, und Merkel steht kurz vor Vollendung ihrer vierten Amtszeit. Stabiler geht es kaum. Trotzdem, weit entfernt von einer Regierungskrise ist das chaotische Geschehen in Berlin nicht. Im Grundgesetz ist für Regierungskrisen die Vertrauensfrage vorgesehen. Ob Angela Merkel sie für sich entscheiden würde? Ihr Vizekanzler tritt als Kanzlerkandidat an, eine sichere Bank wäre die SPD wohl nicht. So oder so zeigt sich deutlich: Die Regierung ist in der Krise. BERICHT „EINZIG UND ALLEIN MEIN FEHLER“, TITELSEITE
ED