Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Israel wählt das Unentschieden
Die erneute Parlamentswahl ist erwartbar knapp ausgefallen. Bis Freitag soll sich die Regierung bilden. Nun gibt es vier Szenarien – nur eines dürfte Regierungschef Netanjahu nicht gefallen.
JERUSALEM Siegesstimmung bleibt auch dieses Mal aus. Bei der vierten israelischen Parlamentswahl innerhalb von zwei Jahren scheint Israel wieder in der Sackgasse zu stecken. Zwar wurde der Likud von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erneut stärkste Kraft, doch nach bisherigem Stand ist es weder seinem rechtsreligiösen Block noch dem Anti-Netanjahu-Block gelungen, die erforderlichen 61 Sitze im Parlament, der Knesset, zu erhalten. Trotz 450.000 Stimmen, die noch auf ihre Auszählung warten, war mit großen Veränderungen nicht mehr zu rechnen. Die endgültigen Wahlergebnisse werden für Freitag erwartet. Netanjahu sprach lediglich von „großen Errungenschaften“, warnte vor fünften Wahlen und rief zur Bildung einer stabilen Regierung auf.
Königsmacher könnte Mansour Abbas werden, dem mit seiner konservativ-islamischen Partei gerade der Sprung über die 3,25-Prozent-Hürde gelungen ist. Bereits im Vorfeld hat er betont, dass er mit denjenigen zusammenarbeiten wird, die ihm das beste Angebot machen. Mit den fünf Knesset-Sitzen von Abbas' Partei Ra`am könnte Netanjahu nach bisherigem Stand eine Mehrheit bilden. Mit in einer solchen Regierungskoalition säße allerdings auch das offen rassistische und anti-arabische Parteienbündnis Religiöser Zionismus. Wie diese Zusammenarbeit aussehen soll und ob Ra`am tatsächlich mit in der Koalition sitzen oder einer rechten Minderheitsregierung lediglich durch Enthaltungen in Parlamentsabstimmungen die Mehrheit sichern würde, ist völlig offen. Im Likud ist angesichts dieser realistischer werdenden Option nach Medienberichten Streit ausgebrochen. Regierungschef Netanjahu soll daraufhin ein Verbot von Medieninterviews für alle Likud-Abgeordneten verhängt haben.
Auch Naftali Bennett mit seiner „Neuen Rechten“, auf die eine Netanjahu-Regierung angewiesen wäre, legt sich weiterhin nicht fest. Am Dienstagabend beließ er es nach den ersten Hochrechnungen bei der kryptischen Botschaft, dass das, „was war, nicht sein wird“. Im Fall einer Möglichkeit zur Regierungsmehrheit für Netanjahu mit
Bennett dürfte der Regierungschef dem aufstrebenden rechten Politiker einiges an Zugeständnissen machen müssen.
Eine Mehrheit für ein lagerübergreifendes Anti-Netanjahu-Bündnis von links bis rechts ist ebenfalls noch denkbar – vorausgesetzt, Ra`am und die rechte Formation Jamina können auf die Seite der Netanjahu-Gegner gezogen werden. Die große Frage wäre in diesem Fall: unter wessen Führung? Zwar stellt die liberale Jesch Atid nach jetzigem Stand mit 17 Sitzen die zweitgrößte Partei und die größte Oppositionspartei. Doch für Naftali Bennett, der sich als zukünftigen Ministerpräsidenten in einer rechten Regierung sieht, käme es wohl einem Gesichtsverlust unter seiner rechten Wählerschaft gleich, in eine Koalition unter Jair Lapid, dem Chef von Jesch Atid, einzusteigen. Dementsprechend ist es nicht auszuschließen, dass Bennett – obwohl seiner Partei nach bisherigem Stand nur sieben Sitze zufallen – in solch einer Koalition Regierungschef würde.
Die dritte Option, sollte eine Mehrheit erneut verfehlt werden, ist eine Neuwahl. Der israelische Experte Yaron Deckel bringt allerdings eine vierte Möglichkeit ins Spiel. Denn sollte der Anti-Netanjahu-Block die erforderlichen 61 Sitze zusammenbringen, sich jedoch nicht auf eine Regierungskonstellation einigen können, so wäre folgendes Szenario denkbar: Mit einfacher Mehrheit könnten die Abgeordneten ein Gesetz erlassen, das es einem vor Gericht Angeklagten verbietet, Ministerpräsident zu sein. Für den in drei Korruptionsfällen angeklagten Netanjahu wäre dies das politische Aus. Eine danach ausgerufene Neuwahl dürfte die Karten komplett neu mischen.