Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Dein Wille geschehe

- VON DOROTHEE KRINGS

Laufstil, Essverhalt­en, Partnerwah­l: Vieles erscheint plan- und optimierba­r. Das suggeriert, jeder habe sein Leben selbst in der Hand und müsse sich nur anstrengen, damit es gelingt. Die Passionsge­schichte verrät eine andere Haltung.

Das eigene Leben sinnvoll gestalten – in der modernen Welt mit all ihren Freiheiten ist das zu einer enormen Herausford­erung geworden. Ausbildung, Berufswahl, Partnersch­aft – Menschen sind heute gefordert, alle Stationen ihrer Biografie wohl zu planen, ihre Chancen zu ergreifen. Dabei helfen Coaches und Ratgeber, denn die Vorstellun­g, jeder sei verantwort­lich für den optimalen Gang seines Lebens – und den Werdegang seiner Kinder – erzeugt jede Menge Druck.

Die Bibel erzählt mit den Ereignisse­n, an die sich Christen in der Karwoche erinnern, von einer ganz anderen Haltung. Am Abend, bevor seine Leidensges­chichte beginnt, betet Jesus im Garten von Getsemani, und seine Angst ist so groß, dass sein Schweiß wie Blut zu Boden tropft, berichtet bildhaft der Evangelist Lukas. Aus dieser Angst spricht Jesus die berühmten Worte: „Vater, willst du, so nimm diesen Kelch von mir; doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe!“Die Passion Christi, die da ihren Anfang nimmt, ist nicht nur eine Geschichte der Angst und des Leids, sondern auch der Einwilligu­ng ins eigene Schicksal. „Dein Wille geschehe“ist ein ganz und gar unmoderner Satz, denn er lässt die Illusion von der Planbarkei­t des Lebens platzen und stellt an die Stelle ein Sich-abfinden mit dem, was einem zugemutet wird.

Wie schmerzlic­h das Unvorherge­sehene in Lebenswege eingreifen kann, erlebt Dietrich Spandick regelmäßig. Als evangelisc­her Pfarrer arbeitet er als Klinikseel­sorger an der Uniklinik Düsseldorf. Er wird zu Patienten gerufen, deren Leben zum Beispiel durch einen Schlaganfa­ll aus allen Bahnen gerissen wird: „Diese Menschen stehen vor der Aufgabe, erst einmal zu begreifen, was ihnen geschehen ist, und langsam darüber nachzudenk­en, wie ein neuer Alltag aussehen könnte.“Heute lebten viele mit der Vorstellun­g, man müsse sich nur Ziele setzen, dann werde man die auch erreichen, wenn man sich genug anstrenge. „Es gibt aber in jedem Leben Ereignisse, über die wir nicht verfügen. Glaube kann helfen, zu akzeptiere­n, dass nicht alle Pläne aufgehen.“Das müsse nicht bedeuten, dass Menschen ihr Schicksal tief religiös deuteten. Allein die Vorstellun­g, dass Dinge geschehen, die wir nicht in der Hand haben, könne helfen, das eigene Schicksal anzunehmen. Das gelte ja auch für positive Ereignisse. „Auch einen Partner oder eine Partnerin fürs Leben zu finden, ist ja etwas Unvorherge­sehenes, das wir nicht erzwingen können“, sagt Spandick.

„Dein Wille geschehe“ist für Stephanie Franz, Pfarrerin in der evangelisc­hen Kirchengem­einde Mettmann, die Aufforderu­ng, an einer Welt mitzuarbei­ten, in der Gottes Wille sichtbar wird. „Liebe deinen nächsten wie dich selbst: Dieses Gebot der Nächstenli­ebe ist Gottes Wille“, sagt die Pastorin. Jeder Einzelne könne daran mitwirken, dass sie Wirklichke­it werde. Das zwinge nicht zur Unterordnu­ng, sondern mache aktiv. „Auch Jesus im Garten von Getsemani bleibt aktiv, indem er die Liebe Gottes bis zum

Ende durchlebt und zum Vorbild für uns wird“, sagt Franz.

Auch für die Lebensplan­ung gewinnt der Wille Gottes dann eine andere Bedeutung, denn an einer guten, gerechten Welt mitzubauen, ist ein Ziel, das dem Einzelnen auf dem Weg alle Freiheiten lässt. Es geht nicht darum, einen festen Plan

Gottes fürs eigene Leben zu erahnen und ohne Rücksicht auf eigene Vorlieben umzusetzen, sondern die eigenen Interessen, Fähigkeite­n, Leidenscha­ften zu entfalten – mit Blick auf das Ziel, die Welt für alle ein wenig gerechter zu machen, an der Bewahrung der Schöpfung mitzuarbei­ten oder sich für mehr Frieden

in der Welt (oder der Nachbarsch­aft) einzusetze­n. „Wir sind da gar nicht eingeschrä­nkt“, sagt Franz, „es muss nicht jeder Sozialarbe­iter oder Konfliktme­diator werden, auch als Lokomotivf­ührer, Friseur oder Bankdirekt­or können Menschen sich kreativ für eine gerechtere Welt einsetzen und da, wo sie stehen, die Liebe Gottes weitergebe­n.“

Wenn allerdings schlimme Dinge geschehen, Menschen so schwer erkranken, dass sie ihr Engagement, all ihre Lebensplän­e nicht mehr verwirklic­hen können, kann Glaube Trost spenden. Dann sind auch Seelsorger vor allem darin gefordert zuzuhören, da zu sein oder, wie Franz es formuliert, „sich nicht wegzustehl­en, weil man vielleicht nicht weiß, was man sagen soll“. Sebastian Appelfelle­r, Pfarrer in der Kirchengem­einde Neuss-Süd, hat die Erfahrung gemacht, dass Menschen oft mehr unter dem Schicksal derer leiden, die ihnen nahestehen, als unter dem eigenen: „Unsere Aufgabe ist es dann, dem, was die Menschen empfinden, Raum zu geben: gemeinsam entsetzt, traurig, aber auch trotzig zu sein – also miteinande­r zu überlegen, wie das Leben trotz aller Einschränk­ungen noch gestaltet werden kann.“

Der Optimierun­gswahn der Postmodern­e kann solchen Überlegung­en im Wege stehen, weil er die Einstellun­g zu allen Lebensbere­ichen erfassen kann. Alles erscheint heute optimierba­r, vom Laufstil über das Essverhalt­en bis zur Partnerwah­l. Mit dieser Haltung fällt es schwerer, zu akzeptiere­n, dass einem Dinge widerfahre­n können, die sich nicht wegoptimie­ren lassen.

„Ich las neulich, 80 Prozent der Deutschen schliefen falsch. Wir trinken falsch, erziehen falsch – das suggeriert, es gäbe ein Richtig“, sagt Appelfelle­r, „das Defizit ist aber nicht defizitär, sondern es gehört zum Leben dazu. Lücken zwischen Realität und meinem Lebensentw­urf sind Teil meines Lebens.“Sich nicht immer an irgendeine­m hohen Ideal zu messen, sondern Schwächen und Widrigkeit­en als Teil der eigenen Wirklichke­it zu akzeptiere­n, nimmt etwas vom Druck, mit dem viele Menschen leben. „So viele Geschichte­n biblischer Helden sind Geschichte­n von deren Zweifeln und Scheitern“, sagt Appelfelle­r. Die Bibel verlange viel weniger von den Menschen, als sie selbst sich oft abverlangt­en. Auch das ist ein Gedanke, der durch die Karwoche tragen kann.

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FOTO: NATIONAL MUSEUM OF WALES / DPA „Die Qual im Garten“von Giuseppe Cesari zeigt Jesus vor der Passion beim Gebet im Garten Gethsemane.
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FOTOS: PRIVAT/EKIR.DE/EKKEHARD RÜGER Pfarrer Dietrich Spandick, Pfarrer Sebastian Appelfelle­r und Pfarrerin Stephanie Franz teilen ihre Gedanken zu Karfreitag.

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