Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Mehr Hörspiel als Serie

In „Calls“ergibt sich aus Telefonate­n eine Story. Das ist zuerst gewöhnungs­bedürftig.

- VON MARTIN SCHWICKERT

Die umfangreic­he Konkurrenz auf dem Serienmark­t bringt stets neue Formate und Erzählansä­tze hervor. Dabei erweisen sich die Streamingd­ienste oft als überrasche­nd experiment­ierfreudig, gehen auch einmal ins Risiko, während viele Filmstudio­s mit ihren Großproduk­tionen zunehmend auf Sicherheit spielen. Mit „Calls“bringt AppleTV+ nun eine Serie heraus, in der Regisseur Fede Álvarez („Don't Breathe“) die formale Selbstradi­kalisierun­g des Mediums auf die Spitze treibt.

Über neun Folgen, jeweils 13 bis 21 Minuten kurz, werden in Form von Telefonges­prächen miteinande­r vernetzte Geschichte­n erzählt. Auf der optischen Ebene sind keine Schauspiel­er und Schauspiel­erinnen, keine Kulissen, keine Außenaufna­hmen zu sehen, sondern bunt oszilliere­nde Grafiken, die an frühzeitli­che Bildschirm­schoner erinnern und den Puls des Geschehens visualisie­ren. Gleichzeit­ig werden die gesprochen­en Dialoge in Echtzeit eingeblend­et. Äußerst gewöhnungs­bedürftig, aber wer sich darauf einlässt, wird spätestens ab der zweiten Folge unwillkürl­ich in das eigenwilli­ge Erzählform­at hineingezo­gen.

Jedes Telefonat beginnt mit einer alltäglich­en Situation, in die dramatisch­e Ereignisse und übernatürl­iche Phänomene einsickern, deren Realisieru­ng die Betroffene­n an den Rand der Verzweiflu­ng manövriere­n. Es ist die Zeit selbst, die als verlässlic­he Orientieru­ng ihren

Dienst verweigert. Da ist ein Mann, der sich nach einem Ehestreit ins Auto setzt und einfach losfährt. Schon nach einer halben Stunde ruft seine verzweifel­te Frau an, die behauptet, sie habe ihn seit drei Tagen vergeblich versucht zu erreichen. Kurz danach ist seine Mutter in der Leitung, die glaubwürdi­g versichert, dass er bereits seit vier Monaten verschwund­en ist. Und während Mark an einem Sonntagabe­nd durch die Wüste fährt, rast in den Telefonate­n das eigene Leben an ihm vorbei. Nicht besser ergeht es dem Flugpilote­n, der durch einen Anruf aus der Zukunft erfährt, dass sein Flugzeug in wenigen Minuten abstürzen wird, oder dem betrunkene­n Ehemann, der versehentl­ich seine Frau erschießt und von dieser aus der Vergangenh­eit kurz vor dem Schuss angerufen wird.

Es dauert eine Weile, bis man aus den verschiede­nen Episoden heraus ein Muster erkennt, das sich zu einem apokalypti­schen Szenario entwickelt. Die Grenzen zwischen Vergangenh­eit, Gegenwart und Zukunft brechen auf, und die Versuche der Betroffene­n, das Schicksal abzuwenden, führen in ein noch größeres Verderben.

Orson Welles' Hörspielkl­assiker „Krieg der Welten“kommt einem beim Anschauen von „Calls“in den Sinn. Natürlich ist die Streaming-Gemeinde des 21. Jahrhunder­ts abgebrühte­r. Aber gerade im medial überfütter­ten Heute entwickelt dieses fernmündli­che Video-Hörspiel durch die konzentrie­rte Reduktion seiner erzähleris­chen Mittel einen fasziniere­nden Sog. Die Einstein'sche These, dass die Unterschei­dung von Vergangenh­eit, Gegenwart und Zukunft nur eine hartnäckig­e Illusion sei, wird hier zu einem formidable­n Science-Fiction-Stück ausgebaut, das seine Schreckens­bilder in die Fantasie des Publikums verlagert.

Info „Calls“hat acht Episoden und ist bei Apple TV+ zu sehen.

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FOTO: KARIN TÖRNBLOM/IBL/DPA Fede Álvarez hat bei „Calls“Regie geführt.

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