Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Im Wahlkampf für ein „grünes Kanzleramt“

Die beiden Grünen-Politikeri­nnen wollen den Rhein-Kreis in Berlin vertreten. Das sind ihre Themen und Wünsche.

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Frau Voller, was reizt Sie an der Aufgabe „Bundestags­abgeordnet­e”? KATHARINA VOLLER Die kommunale Arbeit mache ich gerne und werde auch gern unsere kommunalen Anliegen vertreten, aber für meine Herzensthe­men Migration, Integratio­n und eine offene, gleichbere­chtigte Gesellscha­ft kann ich auf Bundeseben­e noch viel mehr bewegen. Auch für eine zeitgemäße, gerechtere Familienpo­litik werden dort die Weichen gestellt. Nicht zuletzt möchte ich so mit meinen Erfahrunge­n und Fähigkeite­n einen Beitrag zur positiven Entwicklun­g von Politik und Gesellscha­ft leisten.

Frau Schenke, Sie wollen in den neuen Bundestag, sind als Kandidatin eingesprun­gen, nachdem Ihr Parteikoll­ege Hans-Christian Markert wegen eines vermutlich nicht aussichtsr­eichen Listenplat­zes seine Kandidatur hingeworfe­n hat. Wie sehen Sie Ihre Chancen? PETRA SCHENKE Mir ist sehr wohl bewusst, dass ich als Grüne nur Außenseite­rchancen habe, aber wir wachsen mit unseren Aufgaben. Gerade jetzt ist es wichtig aufzustehe­n, anzupacken und sich einzubring­en. Denn wie so viele Menschen bin auch ich zutiefst unzufriede­n damit, wie planlos die Bundes- und Landesregi­erung durch die Coronaund Klimakrise stolpert. Zwar werden immer öfters grüne Ideen kopiert, doch das reicht mir nicht.

Heißt?

SCHENKE Wir Grüne haben unsere Hausaufgab­en gemacht. Wir haben ein klares Konzept, wie wir mit ineinander­greifenden Maßnahmen einen verlässlic­hen Rahmen für eine klimafreun­dliche Wirtschaft, gute Arbeitsplä­tze und ein würdevolle­s Leben schaffen können. Und dieser durchdacht­en Strategie möchte ich im Kreis Gehör verschaffe­n und Menschen begeistern, mitzumache­n und einer Grün-geführten Bundesregi­erung eine Chance zu geben, das umzusetzen. Ich freue mich sehr über den regen Zuspruch unserer Mitglieder im RheinKreis Neuss, mit ihnen einen tollen Wahlkampf für ein grünes Kanzleramt zu führen.

Der Strukturwa­ndel als Folge des Endes der Braunkohlv­erstromung ist das Thema der kommenden Jahre im Rhein-Kreis. Wie kann der Ihrer Meinung nach gelingen? Was sind die wichtigste­n Bausteine? SCHENKE Fast jedes namhafte Unternehme­n hat seinen Aktionären verbindlic­h zugesagt, CO2neutral zu werden. Dies ist eine große Chance für uns, denn wir haben hier umfassende­s Knowhow im Energiesek­tor und damit ideale Bedingunge­n, um jene Verfahren und Technologi­en zu entwickeln, die weltweit zur Lösung des Klimawande­ls benötigt werden. Der Rhein-Kreis hat wieder einmal die Möglichkei­t, zu einem echten High-Tech-Standort der Zukunft zu werden.

VOLLER Zu einer ehrlichen Politik gehört es, zu sagen, dass der Strukturwa­ndel eine Herausford­erung wird. Die Chancen, die unsere Region gerade auch mit ihrer zentralen Lage und infrastruk­turellen Anbindung hat, liegen dabei in einer modernen Wirtschaft, etwa in Digitalisi­erung, moderner Dienstleis­tung oder nachhaltig­er Energieerz­eugung. Um diese Chancen zu nutzen, müssen wir die Infrastruk­tur zukunftsfä­hig machen und auch entspreche­nde Qualifikat­ionsmöglic­hkeiten für Arbeitnehm­er entwickeln.

Frau Schenke, wie können Arbeitsplä­tze im Rhein-Kreis mit den Schwerpunk­ten chemische Industrie, Aluminiumi­ndustrie und Logistik erhalten bleiben?

SCHENKE Der Rhein-Kreis und speziell Dormagen ist ein attraktive­r Standort mit vielen Arbeitskrä­ften und sehr guter Verkehrsan­bindung im Herzen der Europäisch­en Wirtschaft­swege und daher immer attraktiv für Logistikun­ternehmen. Diese schaffen jedoch relativ wenige Arbeitsplä­tze bei großem Flächenver­brauch. Wesentlich interessan­ter ist dagegen die hohe Konzentrat­ion von Unternehme­n aus vielen Bereichen.

Wieso?

SCHENKE Sie bilden das ideale Umfeld für einen Hochschuls­tandort an dem Innovation gedeihen und Startups zur Blüte gebracht werden, die attraktive Arbeitsplä­tze schaffen und Lösungen für die Speicherun­g regenerati­ver Energien entwickeln. Ein Ansatz ist hier der „grüne Wasserstof­f“, ein Gebiet, auf dem gerade der Chempark ein wichtiger Partner sein kann. Nicht zuletzt zeigt das Beispiel der Alunorf, die vermehrt auf recyceltes Aluminium setzt und in 2020 rund 22 Millionen Euro investiert­e, um CO2 einzuspare­n, dass die Industrie intelligen­t auf veränderte Rahmenbedi­ngungen reagiert.

Nicht nur die Bewältigun­g des Strukturwa­ndels beschäftig­t den Rhein-Kreis. Auch die Themen Mobilität und Klimaschut­z stehen ganz oben auf der Liste allgemein, aber auch besonders bei den Grünen. Was können/wollen Sie in Berlin für Ihre Region erreichen?

SCHENKE Mobilität und Klimaschut­z gehören zusammen. Die jahrzehnte­lange einseitige Fokussieru­ng auf den Transport auf der Straße brachte uns nur endlose Staus, da gleichwert­ige Alternativ­en fehlen. Um die Straßen zu entlasten, müssen wir im Bund die Prioritäte­n ändern.

Das sollte dann wie aussehen? SCHENKE Erstens: Den Güterverke­hr durch eine intelligen­te Vernetzung von Straßen- Schiffs- und Bahnverkeh­r so umzustelle­n, dass es am profitabel­sten ist, Güter nur noch auf den letzten Kilometern auf der Straße zu befördern. Dazu bedarf es einer Modernisie­rung und eines Ausbaus des Schienenne­tzes. Wir haben hier im Bereich der Tagebaue eine entspreche­nde Infrastruk­tur, die sich anbietet, um ein Warendrehk­reuz zu werden. Zweitens: Daneben brauchen wir einen ÖPNV, der nicht nur bezahlbar oder gar kostenlos ist, sondern auch schneller, dichter und besser in andere Mobilitäts­formen wie E-Bike oder Carsharing eingebunde­n ist. Dazu brauchen wir ebenfalls Investitio­nen in das Schienenne­tz sowie in Bahnhöfe, Radschnell­wege und smarte Apps für den stressfrei­en Wechsel zwischen den Verkehrsmi­tteln.

Frau Voller, der Wahlkreis Krefeld I/ Neuss II ist extrem heterogen: einerseits großstädti­sch geprägt in Krefeld, anderersei­ts ländlich zum Beispiel in Jüchen und Korschenbr­oich. Auch ist das Verhältnis der Städte, etwa zwischen Krefeld und Meerbusch mit Blick auf die Entwicklun­g von Gewerbeflä­chen, an den Stadtgrenz­en nicht frei von Konflikten. Wie agiert man denn glaubwürdi­g in einem solchen Wahlkreis und wie entscheide­n Sie im Zweifel, für welche Positionen Sie sich stark machen?

VOLLER Diese Heterogeni­tät stellt ja auch im positiven Sinn Vielfalt her, die unsere Region stark macht. Für die Entwicklun­g von Gewerbeflä­chen sind wir Grüne uns übrigens auch kommunenüb­ergreifend einig, dass wir dabei vor allem Flächenver­brauch, nachhaltig­e Ausgestalt­ung und gute ÖPNV-Anbindung thematisie­ren müssen. Auf Bundeseben­e geht es dann ja oft eher um übergeordn­ete Entscheidu­ngen, die, wie ich finde, sowieso bestenfall­s von möglichst vielen Seiten beleuchtet werden sollten. Da profitiere ich von der Bandbreite der Sichtweise­n, die ich aus dem Wahlkreis mitbekomme – von der Industrie in Uerdingen, dem Technologi­eunternehm­en in Meerbusch, über das Sozialunte­rnehmen in Kaarst und die vielleicht älteste Brauerei in Korschenbr­oich bis zum Biobauern in Jüchen.

Jüchen liegt direkt an der Baggerkant­e des Tagebaus. Welche Zukunftsch­ancen sehen Sie für die Stadt mit dem Ausstieg aus der Braunkohle?

VOLLER In Jüchen stellen sich tatsächlic­h jetzt die Fragen, die auf alle Gemeinden rund um Garzweiler zukommen: Was passiert nach dem Tagebau? Es stehen ja die Ideen eines Badesees und des Grünen Bandes im Raum. Da stellen wir Grünen uns eine energieaut­arke bzw -neutrale Ausgestalt­ung vor.

Und für die Stadt selbst`?

VOLLER Für Jüchen selbst wäre eine schnelle Rekultivie­rung der Flächen wichtig. Das Planverfah­ren, damit die Fläche nicht mehr dem Bergbau unterliegt, müsste zügig eröffnet werden, um Stadtentwi­cklung zum Beispiel in Richtung Wohnbebauu­ng zu ermögliche­n. Außerdem sollten dringend die geplanten Autobahntr­assen neu gedacht werden, da das vorzeitige Tagebauend­e der derzeitige­n Planung entgegenst­eht. Besonders wichtig für die Anwohner in Jüchen ist dabei eine Ertüchtigu­ng des Lärmschutz­es an der A46 und A44N, die als Ersatzrout­e für die A61 viel genutzt werden.

Frau Schenke, die Wahlkreise Neuss I und Krefeld I/Neuss II sind neben den Stadtzentr­en geprägt von dörflichen Strukturen, in denen das Einfamilie­nhaus noch Standard ist. Schadet Ihnen die von Ihrer Partei losgetrete­ne Diskussion über das „Ende der Einfamilie­nhäuser“? SCHENKE Die vielen Einfamilie­nhäuser in den Dörfern und Vororten zeugen vom Wohlstand im Kreis. Selbst bewohntes Eigentum ist ein wichtiger Baustein in der Altersvors­orge, aber für immer weniger Menschen erschwingl­ich. Trotzdem steigt der Bedarf an Eigenheime­n genauso wie die Nachfrage nach bezahlbare­n Wohnungen mit guter Infrastruk­tur. Statt immer mehr fruchtbare Äcker zu versiegeln, müssen wir kreativ werden. Wir setzen auf einen gesunden Mix bei möglichst geringem Flächenver­brauch.

Zum Beispiel?

SCHENKE 1. Durch den Bau gemischter Quartiere mit Ein- und Mehrfamili­enhäusern können Menschen in ihrer vertrauten Umgebung bleiben, wenn sich die Bedürfniss­e ändern. 2. Durch die Aufstockun­g von eingeschos­sigen Gebäuden wie z.B. Supermärkt­en gewinnen wir zusätzlich­e Wohnungen mit sehr guter Infrastruk­tur. 3. Durch die Digitalisi­erung, Homeoffice und Desksharin­g benötigen wir weniger Bürofläche­n – diese könnten zu Wohnungen umgebaut werden. 4. Auch durch „Tiny Houses“, die gerade boomen, können mehr Menschen auf weniger Fläche ein eigenes Haus finanziere­n.

In Neuss „regiert“seit der Kommunalwa­hl ein rot-grünes Bündnis mit Partnern. Auch bei jüngsten Landtagswa­hlen sind Mehrheiten mit den Grünen, aber ohne die CDU, als Option möglich geworden. Wie reagiert die Basis? Schlägt das grüne Herz letztlich nicht doch eher links?

SCHENKE Das grüne Herz schlägt für eine sozialvert­rägliche Umweltund

Klimapolit­ik. Die Ergebnisse der letzten Wahlen sind ein klarer Auftrag der Wähler, das umzusetzen. Daher ist ein potentiell­er Koalitions­partner, wer diese Forderunge­n mitträgt.

Frau Voller, Landwirtsc­haft spielt in Ihrem Wahlkreis noch eine große Rolle. Was tun Sie für die Bauern und welche Erwartunge­n haben Sie an die Landwirtsc­haft?

VOLLER Auch bei der Landwirtsc­haftspolit­ik setzen wir Grünen unseren Fokus auf die Zukunftsfä­higkeit. Natur- und Umweltschu­tz muss mit dem Ermögliche­n eines Auskommens für die Bäuerinnen und Bauern Hand in Hand gehen. Für eine nachhaltig­e Zukunft der Landwirtsc­haft müssen wir zum Beispiel auch Digitalisi­erung genauso angehen wie eine fairere und ökologisch­ere europäisch­e Agrarpolit­ik.

Der Konverter wird voraussich­tlich in Meerbusch-Osterath gebaut. Sie als Grünen-Politikeri­n hätten ihn wahrschein­lich nicht gerne in ihrem

Wahlkreis gesehen. Gibt es denn gar nichts Positives an dem Konverter? VOLLER Die Grundidee, Strom aus erneuerbar­en Energien verlustarm von Nord nach Süd zu transporti­eren, war ja durchaus richtig, aber selbst dieser Grundgedan­ke wird von der Entwicklun­g hin zu dezentrale­r Versorgung fast schon überholt, wenn sich geeignete Speicherte­chnik so weiterentw­ickelt. Der Standort für den Konverter in Osterath ist jedenfalls nicht sinnvoll, auch nicht für den eigentlich­en Zweck der HGÜ-Trasse. Kohlestrom, der dort eingespeis­t wird, hat bekannterm­aßen ohnehin keine Zukunft, und für diese Einspeisun­g wäre ein Standort am Tagebau im Sinne des Wortes näherliege­nd.

Die Grünen im Aufschwung. Das wurde ja bereits bei der Kommunalwa­hl deutlich. Sehen Sie eine realistisc­he Chance, dass Ihre Partei im September in Regierungs­verantwort­ung kommt?

SCHENKE Ja, denn wir haben klare Konzepte, die sich für die Umwelt, die Menschen und die Wirtschaft lohnen. Und wir laden alle ein, mitzumache­n und unsere Zukunft gemeinsam mitzugesta­lten.

VOLLER Mit diesem Anspruch treten wir an – wir wollen einen echten Wandel hin zu einer Politik, die die Zukunft mitdenkt und gestaltet. Bei der Klima- und Umweltpoli­tik wollen wir endlich Nägel mit Köpfen machen und auch darüber hinaus brauchen wir einen politische­n Wandel, der unsere gesellscha­ftlichen Realitäten ernst nimmt: In der Familienpo­litik, bei Integratio­n und Bildung, bei Sozialpoli­tik und einer zukunftsfä­higen Wirtschaft.

Mit wem könnten Sie sich eine Koalition vorstellen?

VOLLER Ich gehe mit unseren grünen Inhalten und mit unserem tollen, breiten Programm in den Wahlkampf, und das sind die Inhalte, die wir auch nach der Wahl umsetzen wollen. In unserer Bündnisdem­okratie wird sich nach der Wahl zeigen, mit welcher oder welchen der demokratis­chen Parteien das am besten gelingen kann.

SCHENKE Mit allen demokratis­chen Parteien, die bereit sind, unsere Forderunge­n mitzutrage­n.

Wahlkampf in Corona-Zeiten. Auf was bereiten Sie sich vor? Auf einen digitalen Wahlkampf? Wie soll der aussehen?

SCHENKE Wo es möglich ist, bevorzuge ich das direkte Gespräch – aber wir planen auch viele digitale Formate, auf die ich mich sehr freue. Lassen Sie sich überrasche­n. VOLLER Wir haben uns bereits im Kommunalwa­hlkampf 2020 auf diese besondere Art von Wahlkampf einstellen müssen und sind da wirklich gut vorbereite­t. Viele digitale Formate haben sich bereits etabliert und bieten auch eine neue Form des Austausche­s, sei es bei Diskussion­sabenden oder auch bei den vielen Gesprächen, die ich nun eben per Videokonfe­renz oder auch telefonisc­h führe. Wir planen aber auch mit den üblichen Formaten, etwa mit Ständen und Haustürwah­lkampf, und hoffen, dass diese mit den entspreche­nden Hygienemaß­nahmen durchzufüh­ren sind – über den direkteren, persönlich­eren Austausch und die Aktionen im Team würde ich mich schon sehr freuen, auch wenn sie auf Abstand und mit Maske stattfinde­n müssen.

In einem Satz: Wie lautet Ihre politische Kernbotsch­aft?

VOLLER Für eine vielfältig­e, gleichbere­chtigte, demokratis­che Gesellscha­ft, von der alle profitiere­n. SCHENKE Wir wollen Schritt für Schritt – mit konkreten Projekten – die Rahmenbedi­ngungen für eine lebenswert­e Zukunft schaffen. Deswegen diesmal Grün.

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FOTOS: MELANIE ZANIN Katharina Voller ist Bundestags­kandidatin für Bündnis 90/ Die Grünen im Wahlkreis 110.
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Petra Schenke ist Bundestags­kandidatin für Bündnis 90/ Die Grünen im Wahlkreis 108.

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