Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Der feine deutsche Unterschied
ANALYSE Lange galt die Bundesrepublik Deutschland als Land der Aufstiegswilligen und der Mittelschicht. Doch seit den 90er-Jahren bildet sich eine „verschämte Klassengesellschaft“heraus. Über die Gründe streiten die Experten.
Als eine Delegation der britischen Labour Party Mitte der 80er-Jahre Deutschland besuchte, machten die Parlamentarier eine interessante Feststellung. Im Gegensatz zu Großbritannien sei Deutschland eine „klassenlose Gesellschaft“. Die Bewertung der Vertreter einer linken Volkspartei ist umso bemerkenswerter, als in beiden Ländern konservative Regierungen an der Macht waren – in Großbritannien unter Margaret Thatcher, in der Bundesrepublik unter Helmut Kohl.
Die These der klassenlosen Gesellschaft würde der in Nordrhein-Westfalen geborene und in Basel lehrende Soziologe Oliver Nachtwey so nicht mehr teilen. „Im Vergleich zu den Briten haben wir verschämte Klassenverhältnisse“, sagte der Professor jüngst in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“. Superreiche Deutsche wie die Inhaber der Discounterketten Aldi und Lidl oder die Gesellschafter des Düsseldorfer Henkel-Konzerns zeigen nun mal ihren Reichtum nicht. Und auch den Arbeitern in Deutschland fehlt, ob sie nun für Daimler, Bayer, Siemens oder einen der vielen Mittelständler tätig sind, ein ausgeprägtes Klassenbewusstsein.
In der Selbstwahrnehmung der Deutschen wirkt noch immer die „nivellierte Mittelschichtsgesellschaft“des Soziologen Helmut Schelsky nach, der den Aufstiegswillen breiter Bevölkerungsschichten in den 50er- und 60er-Jahren beschrieb. Auch sein modernerer Wissenschaftskollege Ulrich Beck sprach vom Fahrstuhleffekt, der zwar Schichtenunterschiede nicht leugnet, sie aber für weniger entscheidend hält, weil die Fahrt eben für alle nach oben geht.
Seit den 90er-Jahren hat dieses Bild starke Risse bekommen. Die Schulforscher der Industrieländer-Organisation
OECD stellten für die Zeit nach 2000 fest, dass nur noch 20 Prozent der Jüngeren einen höheren Bildungsabschluss als ihre Eltern haben. In Umfragen geben 86 Prozent der reicheren Eltern an, dass sie für ihre Kinder das Abitur anstreben, bei den bildungsferneren Schichten sind es gerade einmal 47 Prozent. Nachtwey bemüht für die wachsende Ungleichheit statt des Fahrstuhls lieber das Bild der unterschiedlichen Rolltreppen in Kaufhäusern: „Für die oberen 40 Prozent führt die Rolltreppe nach oben. Für alle anderen fährt sie nach unten.“Obwohl die Bundesrepublik seit 2010 eine der günstigsten Wirtschaftsentwicklungen in Europa durchlaufen habe, profitiere davon das untere Drittel kaum. Die Abgehängten, so Nachtwey, müssten seit den 90er-Jahren sogar reale Einkommensverluste hinnehmen. Während sich also durch prekäre Jobs im Dienstleistungsbereich, niedrige Löhne und größere Zuwanderungswellen eine Unterschicht mit weniger Aufsteigern als früher herausgebildet hat, schotten sich die Mittelklasse und die Top-Verdiener zunehmend ab – mit klassischen Mitteln. Der Freiburger Gesellschaftswissenschaftler Alexander Lenger hat herausgefunden, dass etwa die Promotion bei Kindern aus bürgerlichen privilegierten Schichten ein hohes Prestige genießt, während Arbeiterkinder mit guten Universitätsabschlüssen darauf weniger Wert legen. Der Elitenforscher Michael Hartmann hat beobachtet, dass die Reichen ihre Kinder gern auf Privatschulen und namhafte Wirtschaftshochschulen schicken und genau den Habitus herausbilden, den der französische Intellektuelle Pierre Bourdieu schon 1982 als den „feinen Unterschied“beschrieben hat.
Wie vieles andere auch hat die Corona-Pandemie die verborgene Klassengesellschaft offensichtlich gemacht.
Oliver Nachtwey Soziologe Der Düsseldorfer Medizinsoziologe Nico Dragano hat in einer Untersuchung der Daten von 1,3 Millionen AOK-Versicherten ermittelt, dass Hartz-IV-Empfänger doppelt so häufig als Covid-Patienten in Krankenhäusern behandelt werden als Erwerbstätige. „Das Virus trifft eben nicht alle gleich“, sagt auch der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge. „Flüchtlinge, Werkvertragsarbeitnehmer, Erntehelfer und Obdachlose sind einem höheren Infektionsrisiko ausgesetzt als Menschen aus der Mittel- und Oberschicht, die nicht in Massenunterkünften oder Kleinstwohnungen leben müssen.“
Woran es liegt, darüber streiten sich Soziologen, Politologen und Wirtschaftswissenschaftler. Die einen machen die vierte industrielle Revolution und Digitalisierung der Welt dafür verantwortlich, die zu einer neuen Konzentration der Vermögen und der Wirtschaftsmacht weltweit geführt hat und eine bestimmte Akademikerschicht zu Top-Verdienern macht. In Deutschland kommt die Vernachlässigung der breiten Bildung hinzu, die nach einer Studie der drei nordamerikanischen Ökonomen Florian Hoffmann, David Lee und Thomas Lemieux die Einkommensunterschiede hat wachsen lassen.
Und es könnte so weitergehen. Denn neben der Bildung führt offenbar auch die ungleiche Verteilung der Vermögen dazu, dass die Einkommensunterschiede zunehmen. „Es ist durchaus möglich, dass die Ungleichverteilung in Europa weiter wächst“, schreiben die drei Autoren, „wenn die gut ausgebildeten Top-Verdiener auch noch Startvorteile durch ihr ererbtes Vermögen besitzen.“
Immerhin wirkt in Deutschland noch die Umverteilungspolitik. Der Rat der fünf Wirtschaftsweisen hat jedenfalls in einem seiner Gutachten festgestellt, dass zwar die am freien Markt erzielten Verdienste zu einer Einkommensschere führen. Nach Steuern und der Auszahlung von Sozialleistungen hat sich aber der Ungleichheits-Koeffizient der Nettoeinkommen seit 2005 nicht verändert.
„Für die oberen 40 Prozent führt die Rolltreppe nach oben“