Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Hassliebe Fußball
MEINUNG Ein Leben ohne Fußball ist möglich, aber sinnlos, hätte Loriot gesagt. Damit hat er vollkommen recht. Nicht alles aber ist gut. Wo das Faible eines Anhängers am ausgeprägtesten ist und wo die Auswüchse der heutigen Zeit einem die Leidenschaft verderben.
Nach zuverlässigen Schätzungen meiner engeren Umgebung dreht sich in meinem Leben seit rund 60 Jahren fast alles um Fußball. Fast alles. Auf den Wiesen zwischen noch unbebauten Grundstücken, auf der Straße, im Torweg der Großeltern in der Kindheit, auf Ascheplätzen und holprigen Rasenplätzen im Verein. Als Zuschauer auf windigen Tribünen – irgendwann beruflich als Begleiter eines immer bunter werdenden Unterhaltungsbetriebs. Manches finde ich immer noch gut, manches schon lange nicht mehr. Eine Liste.
Die guten Seiten
1. Eine Mannschaft ist eine Mannschaft Der schönste Fußball wird gespielt, wenn es in der Mannschaft stimmt. Wenn jeder weiß, was er auf seinem Platz tun und was er lassen muss. Dann ist eine Mannschaft wie ein Körper aus elf Teilen auf dem Feld. Selbst der Beste kann ohne seine Mitspieler nichts gewinnen, und das Niveau eines Teams bestimmt immer sein schwächstes Glied. Die besten Mannschaften der Geschichte waren ein harmonisches Ganzes, das als Team reagieren konnte – Ajax Amsterdam und die holländische Nationalmannschaft in den frühen 1970er Jahren, die brasilianische Nationalelf 1970, die deutsche Nationalelf 1972, der FC Barcelona mit Trainer Pep Guardiola, der FC Bayern mit Jupp Heynckes. Das war mein Fußball. 2. Lernen fürs Leben Das Mannschaftsspiel erzieht fürs Leben. Jeder lernt, dass er die Mitspieler braucht, jeder findet einen Platz, selbst der Alleingang ist im besten Fall ein Beitrag zum Erfolg der Gruppe. Wer selbst Fußball gespielt hat, tut sich im Leben leichter, weil er den Wert der Gemeinschaft spielerisch begriffen hat. Fußball ist Herzensbildung. 3. Ein Spiel dauert 90 Minuten In der Sache hat Sepp Herberger, der Fußballweise von der Bergstraße, auf jeden Fall Recht. Erst wenn der Schiedsrichter zum letzten Mal pfeift, ist eine Begegnung entschieden. Deshalb gibt es immer wieder spektakuläre Wendungen – mal sehr vergnüglich, mal zum Verzweifeln, je nach Standpunkt. Große Aufholjagden vergisst niemand – wie die des FC Liverpool im Champions League-Finale 2005 gegen den AC Mailand. Der spätere Sieger glich einen 0:3-Rückstand aus. Oder das Comeback von Borussia Dortmund im Viertelfinale 2013 gegen den FC Malaga mit zwei Toren zum 3:2 in der Nachspielzeit. Ich spüre noch heute das Beben der Tribüne. 4. Tore Das Tor ist Ziel jedes Angriffs, und die Verhinderung des Tors ist Ziel jeder Abwehraktion. Fußball ist ein einfaches Spiel. Schöne Tore können mit schlappen Spielen versöhnen, wichtige Tore bleiben in Erinnerung. Helmut Rahn, der im WM-Finale 1954 den entscheidenden Treffer erzielt hatte, musste zeit seines Lebens immer wieder an den Theken seiner Heimatstadt Essen dem einen Wunsch nachkommen: „Helmut, erzähl mich dat Tor!“Es gibt viele schönste Tore der Geschichte. Mein schönstes ist das des Brasilianers Carlos Alberto zum 4:1-Endstand im WM-Finale 1970 gegen Italien. Fast die gesamte Mannschaft war an der Vorarbeit beteiligt. 5. Kombinationen Das Tor von Carlos Alberto ist ein Beispiel für perfektes Teamwork. Kombinationen der ganzen Mannschaft geben dem Fußball Sinn und Schönheit zugleich. Deshalb fand ich den Voetbal Totaal der Holländer so berauschend oder das unwiderstehliche Tempospiel der Bayern in ihren beiden Triple-Spielzeiten. 6. Typen Alle Jahre wieder wird irgendwo das Aussterben der echten Typen beklagt. Dabei gibt es sie auch im modernen Fußball immer wieder. Man muss nur hinschauen. Cristiano Ronaldo ist einer, Joshua Kimmich kann einer werden, Sergio Ramos ist bestimmt einer. Sie spielen unverwechselbar, sie können mitreißen, und sie polarisieren. Dafür müssen sie nicht mal praktizierende Werbefigur für die Tabak-Industrie sein wie Mario Basler. 7. Abwehrspieler Stürmer schaffen es schneller in die Mannschaft des Tages, weil sie für den Abschluss zuständig sind und deshalb von den Fans bejubelt (im Falle des Versagens auch verdammt) werden. Die Arbeit der Abwehrspieler hat weniger Glanz, sie steht mehr im Dienste der Allgemeinheit. Das ist oft unauffälliger als das Dribbling über den halben Platz. Aber es ist der Anfang des Spiels. Und: Ich war selbst Abwehrspieler. 8. Die großen Spieler Nichts geht über die
Mannschaft (siehe oben). Aber ohne die großen, die prägenden
Spieler würde sich niemand an Fußballepochen erinnern. Große Fußballer haben dem Spiel etwas Besonderes gegeben, sie waren und sind unverwechselbar. Sie verzaubern. Meine Größten: Franz Beckenbauer, Pelé, Johan Cruyff, Gerd Müller, Socrates, Diego Maradona, Bastian Schweinsteiger. In der Reihenfolge. 9. Die Energie im Stadion Wer mal im Stadion am Millerntor auf St. Pauli war (vor allem in den Jahren vor der Jahrtausendwende), der konnte es im Bauch spüren. Zigtausend Menschen können Energie erzeugen, die auf den Platz strahlt. Das kann Mannschaften beflügeln und die Zuschauer selbst glücklich machen. Das Gemeinschaftserlebnis gehört zum Schönsten im großen Fußball. 10. Das Familiäre bei den Amateuren Die Alten Herren grillen am Bratwurststand, der Kasgeht sierer mit dem Kästchen von Gast zu Gast. Während der Blick aufs Feld gerichtet ist, werden die wichtigsten Nachrichten aus Verein und Familie ausgetauscht. Nebenbei wird das Geschehen auf dem Feld kommentiert. Meistens war früher alles besser. Siege sind schön, aber nicht alles. Niederlagen sind schade, aber am Ende nach einem Bier auch nicht mehr so schlimm. 11. Das Klackern der Stollen im Kabinengang Für mich ist es das Geräusch meiner eigenen, bescheidenen sportlichen Vergangenheit. Dieses Geräusch ist bei Profis und Amateuren gleich. Es erinnert daran, dass es immer doch nur Fußball ist.
Die schlechten Seiten
1. Geisterspiele Bis zur großen Corona-Zäsur ein ganz seltenes Phänomen, seither aber der Normalfall. In menschenleeren Stadien gehen
Fußballer ihrem Beruf nach, beobachtet von Kameras, die das Spiel in die Wohnzimmer übertragen. Es ist eine seelenlose Veranstaltung. In vielen Arenen hingen schon Spruchbänder wie dieses: „Fußball ohne Fans ist nichts.“Stimmt. 2. Das Showbusiness Fußball ist längst ein großes Geschäft. Die Hauptdarsteller benehmen sich wie andere Größen in der Unterhaltungsindustrie. Sie treten auf, sie pflegen vermeintliche Nähe in den Sozialen Medien, die ihre Beraterfirmen für sie organisieren. Sie sind öffentliche Wesen, aber niemand kennt sie mehr. 3. Schauspielerei Schwalbenkönige gab es schon immer, Spieler, die nach vermeintlicher Feindberührung durch die Strafräume segelten oder ihre Schmerzen mit fünffachem Überschlag und Wehklagen unterstrichen, obwohl da gar nichts war. Diese Form von Betrug konnte ich noch nie leiden. Sie ist leider nicht weniger geworden. 4. Unternehmen, die sich Fußball kaufen So mancher Milliardär hat sich ein Spielzeug geleistet und mit dem dicken Geld den fairen Wettbewerb einfach ausgehebelt. Staatskonzerne mischen im internationalen Fußball munter mit. Katar hat sich unter immer noch ungeklärten Umständen die WM 2022 gesichert und opfert dafür buchstäblich Gastarbeiter auf den Baustellen. Pervers. 5. Vertragspoker Am Spieltag schlagen sie sich mit der rechten Hand aufs Vereinswappen (Logo heißt es inzwischen), zwischen den Spieltagen lassen sie ihre Berater mit anderen Klubs feilschen. Irgendwo ist immer noch ein Milliönchen mehr rauszuholen. Natürlich wird so ganz nebenbei mal ein Gerücht über bessere Angebote platziert. Am Ende werden viele reicher, nur das Ansehen des Sports wird ärmer. 6. Distanz zur Basis Funktionäre berufen sich in ihren Sonntagsreden in schöner Regelmäßigkeit auf den Kontakt zur Basis, auf die Bedeutung der Millionen Freizeitsportler oder der über sieben Millionen Mitglieder im Deutschen Fußball-Bund. Vereine betonen gern ihre Fannähe. In Wirklichkeit ist aus dem Fan schon lange ein Kunde geworden, der den Betrieb mit befeuern darf, aber gegen dessen Auswüchse lieber nicht protestieren soll. Kritische Mitwirkung ist nicht erwünscht. 7. Mangelnde Ethik Nicht nur die Schauspieler auf dem Rasen verraten gelegentlich die ethischen Grundsätze. Auch im Geschäft ist sich zunächst mal jeder der Nächste. „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“, schrieb Bert Brecht. Im Fußball kommt erst der Erfolg und dann vielleicht mal Solidarität. Beispiele bieten der Transfermarkt und die Diskussion um die Verteilung der TV-Gelder. 8. Die Verwissenschaftlichung Niemand weiß genau, wann das taktische Seminar begonnen hat. Tatsache aber ist, dass die Trainer dem hochverehrten Publikum in den zurückliegenden Jahrzehnten nicht nur die Feinheiten des Gegenpressings, Begriffe wie abkippender Sechser oder Zehner und Zahlenspiele vom 4-3-3 über 4-2-3-1, 3-2-2-2-1 und andere näherbrachten, sondern dass die auch in die täglichen Gespräche Eingang gefunden haben. Fußball ist eine Wissenschaft geworden. Das versichern jedenfalls die Nebendarsteller in den riesigen Trainerteams. Ermüdend. 9. Die Handregel Es ist seit Jahren ein Ärgernis. Neuerdings haben die Regelhüter die unübersichtlichen Einzel-Bestimmungen zum Handspiel noch einmal um die Definition erweitert, dass die Schulter nicht zum strafbaren Bereich gehört. Die Schulter, das wurde festgelegt, endet in Höhe der Achseln. Aha. Wer das im Tempo des Spiels erkennen soll, haben die Regelhüter nicht erklärt. Wahrscheinlich ging es darum, den vielen Video-Kellern der Welt neue Arbeit zu beschaffen. Das war früher alles einfacher – und besser. 10. Wichtigtuer Eigentlich ist ja nichts wichtiger als das Spiel. Erzählen Sie das mal den kleinen Klubkönigen oder den Selbstdarstellern mit der Pfeife, die auf dem Feld ihr Theater aufführen. Natürlich gibt es gute Schiedsrichter, aber die bemerkt man fast nicht. Die schlechten bringen mich zuverlässig auf die Palme. 11. Hass und Gewalt Es gibt immer noch Zeitgenossen, die den Fußball als Spielwiese für schlimme Sprüche, Rassismus und körperliche Gewalt begreifen. Das ist ekelhaft und verdirbt ebenso nachhaltig den Spaß wie der ungehemmte Kapitalismus im Fußball und seine zunehmende Kommerzialisierung.