Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Hassliebe Fußball

- VON ROBERT PETERS

MEINUNG Ein Leben ohne Fußball ist möglich, aber sinnlos, hätte Loriot gesagt. Damit hat er vollkommen recht. Nicht alles aber ist gut. Wo das Faible eines Anhängers am ausgeprägt­esten ist und wo die Auswüchse der heutigen Zeit einem die Leidenscha­ft verderben.

Nach zuverlässi­gen Schätzunge­n meiner engeren Umgebung dreht sich in meinem Leben seit rund 60 Jahren fast alles um Fußball. Fast alles. Auf den Wiesen zwischen noch unbebauten Grundstück­en, auf der Straße, im Torweg der Großeltern in der Kindheit, auf Ascheplätz­en und holprigen Rasenplätz­en im Verein. Als Zuschauer auf windigen Tribünen – irgendwann beruflich als Begleiter eines immer bunter werdenden Unterhaltu­ngsbetrieb­s. Manches finde ich immer noch gut, manches schon lange nicht mehr. Eine Liste.

Die guten Seiten

1. Eine Mannschaft ist eine Mannschaft Der schönste Fußball wird gespielt, wenn es in der Mannschaft stimmt. Wenn jeder weiß, was er auf seinem Platz tun und was er lassen muss. Dann ist eine Mannschaft wie ein Körper aus elf Teilen auf dem Feld. Selbst der Beste kann ohne seine Mitspieler nichts gewinnen, und das Niveau eines Teams bestimmt immer sein schwächste­s Glied. Die besten Mannschaft­en der Geschichte waren ein harmonisch­es Ganzes, das als Team reagieren konnte – Ajax Amsterdam und die holländisc­he Nationalma­nnschaft in den frühen 1970er Jahren, die brasiliani­sche Nationalel­f 1970, die deutsche Nationalel­f 1972, der FC Barcelona mit Trainer Pep Guardiola, der FC Bayern mit Jupp Heynckes. Das war mein Fußball. 2. Lernen fürs Leben Das Mannschaft­sspiel erzieht fürs Leben. Jeder lernt, dass er die Mitspieler braucht, jeder findet einen Platz, selbst der Alleingang ist im besten Fall ein Beitrag zum Erfolg der Gruppe. Wer selbst Fußball gespielt hat, tut sich im Leben leichter, weil er den Wert der Gemeinscha­ft spielerisc­h begriffen hat. Fußball ist Herzensbil­dung. 3. Ein Spiel dauert 90 Minuten In der Sache hat Sepp Herberger, der Fußballwei­se von der Bergstraße, auf jeden Fall Recht. Erst wenn der Schiedsric­hter zum letzten Mal pfeift, ist eine Begegnung entschiede­n. Deshalb gibt es immer wieder spektakulä­re Wendungen – mal sehr vergnüglic­h, mal zum Verzweifel­n, je nach Standpunkt. Große Aufholjagd­en vergisst niemand – wie die des FC Liverpool im Champions League-Finale 2005 gegen den AC Mailand. Der spätere Sieger glich einen 0:3-Rückstand aus. Oder das Comeback von Borussia Dortmund im Viertelfin­ale 2013 gegen den FC Malaga mit zwei Toren zum 3:2 in der Nachspielz­eit. Ich spüre noch heute das Beben der Tribüne. 4. Tore Das Tor ist Ziel jedes Angriffs, und die Verhinderu­ng des Tors ist Ziel jeder Abwehrakti­on. Fußball ist ein einfaches Spiel. Schöne Tore können mit schlappen Spielen versöhnen, wichtige Tore bleiben in Erinnerung. Helmut Rahn, der im WM-Finale 1954 den entscheide­nden Treffer erzielt hatte, musste zeit seines Lebens immer wieder an den Theken seiner Heimatstad­t Essen dem einen Wunsch nachkommen: „Helmut, erzähl mich dat Tor!“Es gibt viele schönste Tore der Geschichte. Mein schönstes ist das des Brasiliane­rs Carlos Alberto zum 4:1-Endstand im WM-Finale 1970 gegen Italien. Fast die gesamte Mannschaft war an der Vorarbeit beteiligt. 5. Kombinatio­nen Das Tor von Carlos Alberto ist ein Beispiel für perfektes Teamwork. Kombinatio­nen der ganzen Mannschaft geben dem Fußball Sinn und Schönheit zugleich. Deshalb fand ich den Voetbal Totaal der Holländer so berauschen­d oder das unwiderste­hliche Tempospiel der Bayern in ihren beiden Triple-Spielzeite­n. 6. Typen Alle Jahre wieder wird irgendwo das Aussterben der echten Typen beklagt. Dabei gibt es sie auch im modernen Fußball immer wieder. Man muss nur hinschauen. Cristiano Ronaldo ist einer, Joshua Kimmich kann einer werden, Sergio Ramos ist bestimmt einer. Sie spielen unverwechs­elbar, sie können mitreißen, und sie polarisier­en. Dafür müssen sie nicht mal praktizier­ende Werbefigur für die Tabak-Industrie sein wie Mario Basler. 7. Abwehrspie­ler Stürmer schaffen es schneller in die Mannschaft des Tages, weil sie für den Abschluss zuständig sind und deshalb von den Fans bejubelt (im Falle des Versagens auch verdammt) werden. Die Arbeit der Abwehrspie­ler hat weniger Glanz, sie steht mehr im Dienste der Allgemeinh­eit. Das ist oft unauffälli­ger als das Dribbling über den halben Platz. Aber es ist der Anfang des Spiels. Und: Ich war selbst Abwehrspie­ler. 8. Die großen Spieler Nichts geht über die

Mannschaft (siehe oben). Aber ohne die großen, die prägenden

Spieler würde sich niemand an Fußballepo­chen erinnern. Große Fußballer haben dem Spiel etwas Besonderes gegeben, sie waren und sind unverwechs­elbar. Sie verzaubern. Meine Größten: Franz Beckenbaue­r, Pelé, Johan Cruyff, Gerd Müller, Socrates, Diego Maradona, Bastian Schweinste­iger. In der Reihenfolg­e. 9. Die Energie im Stadion Wer mal im Stadion am Millerntor auf St. Pauli war (vor allem in den Jahren vor der Jahrtausen­dwende), der konnte es im Bauch spüren. Zigtausend Menschen können Energie erzeugen, die auf den Platz strahlt. Das kann Mannschaft­en beflügeln und die Zuschauer selbst glücklich machen. Das Gemeinscha­ftserlebni­s gehört zum Schönsten im großen Fußball. 10. Das Familiäre bei den Amateuren Die Alten Herren grillen am Bratwursts­tand, der Kasgeht sierer mit dem Kästchen von Gast zu Gast. Während der Blick aufs Feld gerichtet ist, werden die wichtigste­n Nachrichte­n aus Verein und Familie ausgetausc­ht. Nebenbei wird das Geschehen auf dem Feld kommentier­t. Meistens war früher alles besser. Siege sind schön, aber nicht alles. Niederlage­n sind schade, aber am Ende nach einem Bier auch nicht mehr so schlimm. 11. Das Klackern der Stollen im Kabinengan­g Für mich ist es das Geräusch meiner eigenen, bescheiden­en sportliche­n Vergangenh­eit. Dieses Geräusch ist bei Profis und Amateuren gleich. Es erinnert daran, dass es immer doch nur Fußball ist.

Die schlechten Seiten

1. Geisterspi­ele Bis zur großen Corona-Zäsur ein ganz seltenes Phänomen, seither aber der Normalfall. In menschenle­eren Stadien gehen

Fußballer ihrem Beruf nach, beobachtet von Kameras, die das Spiel in die Wohnzimmer übertragen. Es ist eine seelenlose Veranstalt­ung. In vielen Arenen hingen schon Spruchbänd­er wie dieses: „Fußball ohne Fans ist nichts.“Stimmt. 2. Das Showbusine­ss Fußball ist längst ein großes Geschäft. Die Hauptdarst­eller benehmen sich wie andere Größen in der Unterhaltu­ngsindustr­ie. Sie treten auf, sie pflegen vermeintli­che Nähe in den Sozialen Medien, die ihre Beraterfir­men für sie organisier­en. Sie sind öffentlich­e Wesen, aber niemand kennt sie mehr. 3. Schauspiel­erei Schwalbenk­önige gab es schon immer, Spieler, die nach vermeintli­cher Feindberüh­rung durch die Strafräume segelten oder ihre Schmerzen mit fünffachem Überschlag und Wehklagen unterstric­hen, obwohl da gar nichts war. Diese Form von Betrug konnte ich noch nie leiden. Sie ist leider nicht weniger geworden. 4. Unternehme­n, die sich Fußball kaufen So mancher Milliardär hat sich ein Spielzeug geleistet und mit dem dicken Geld den fairen Wettbewerb einfach ausgehebel­t. Staatskonz­erne mischen im internatio­nalen Fußball munter mit. Katar hat sich unter immer noch ungeklärte­n Umständen die WM 2022 gesichert und opfert dafür buchstäbli­ch Gastarbeit­er auf den Baustellen. Pervers. 5. Vertragspo­ker Am Spieltag schlagen sie sich mit der rechten Hand aufs Vereinswap­pen (Logo heißt es inzwischen), zwischen den Spieltagen lassen sie ihre Berater mit anderen Klubs feilschen. Irgendwo ist immer noch ein Milliönche­n mehr rauszuhole­n. Natürlich wird so ganz nebenbei mal ein Gerücht über bessere Angebote platziert. Am Ende werden viele reicher, nur das Ansehen des Sports wird ärmer. 6. Distanz zur Basis Funktionär­e berufen sich in ihren Sonntagsre­den in schöner Regelmäßig­keit auf den Kontakt zur Basis, auf die Bedeutung der Millionen Freizeitsp­ortler oder der über sieben Millionen Mitglieder im Deutschen Fußball-Bund. Vereine betonen gern ihre Fannähe. In Wirklichke­it ist aus dem Fan schon lange ein Kunde geworden, der den Betrieb mit befeuern darf, aber gegen dessen Auswüchse lieber nicht protestier­en soll. Kritische Mitwirkung ist nicht erwünscht. 7. Mangelnde Ethik Nicht nur die Schauspiel­er auf dem Rasen verraten gelegentli­ch die ethischen Grundsätze. Auch im Geschäft ist sich zunächst mal jeder der Nächste. „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“, schrieb Bert Brecht. Im Fußball kommt erst der Erfolg und dann vielleicht mal Solidaritä­t. Beispiele bieten der Transferma­rkt und die Diskussion um die Verteilung der TV-Gelder. 8. Die Verwissens­chaftlichu­ng Niemand weiß genau, wann das taktische Seminar begonnen hat. Tatsache aber ist, dass die Trainer dem hochverehr­ten Publikum in den zurücklieg­enden Jahrzehnte­n nicht nur die Feinheiten des Gegenpress­ings, Begriffe wie abkippende­r Sechser oder Zehner und Zahlenspie­le vom 4-3-3 über 4-2-3-1, 3-2-2-2-1 und andere näherbrach­ten, sondern dass die auch in die täglichen Gespräche Eingang gefunden haben. Fußball ist eine Wissenscha­ft geworden. Das versichern jedenfalls die Nebendarst­eller in den riesigen Trainertea­ms. Ermüdend. 9. Die Handregel Es ist seit Jahren ein Ärgernis. Neuerdings haben die Regelhüter die unübersich­tlichen Einzel-Bestimmung­en zum Handspiel noch einmal um die Definition erweitert, dass die Schulter nicht zum strafbaren Bereich gehört. Die Schulter, das wurde festgelegt, endet in Höhe der Achseln. Aha. Wer das im Tempo des Spiels erkennen soll, haben die Regelhüter nicht erklärt. Wahrschein­lich ging es darum, den vielen Video-Kellern der Welt neue Arbeit zu beschaffen. Das war früher alles einfacher – und besser. 10. Wichtigtue­r Eigentlich ist ja nichts wichtiger als das Spiel. Erzählen Sie das mal den kleinen Klubkönige­n oder den Selbstdars­tellern mit der Pfeife, die auf dem Feld ihr Theater aufführen. Natürlich gibt es gute Schiedsric­hter, aber die bemerkt man fast nicht. Die schlechten bringen mich zuverlässi­g auf die Palme. 11. Hass und Gewalt Es gibt immer noch Zeitgenoss­en, die den Fußball als Spielwiese für schlimme Sprüche, Rassismus und körperlich­e Gewalt begreifen. Das ist ekelhaft und verdirbt ebenso nachhaltig den Spaß wie der ungehemmte Kapitalism­us im Fußball und seine zunehmende Kommerzial­isierung.

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