Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Die moderne Großfamilie ausprobieren
Der Rat will alternative Wohnformen fördern. Der Verein Wohn-Werkstatt Neuss möchte ihn beim Wort nehmen.
NEUSS Sie würden ihn gerne leben, ihren Traum von der modernen Großfamilie – wenn man sie denn ließe. Seit 2014 arbeiten die derzeit 20 Mitglieder des Vereins Wohn-Werkstatt Neuss auf dieses Ziel hin, ohne bislang ein passendes Objekt, ein Grundstück oder einen Bauherren gefunden zu haben. Doch die Initiative spürt deutlichen Rückenwind, seit der Rat im vergangenen Jahr beschlossen hat, alternative Wohnformen besonders fördern zu wollen.
„Vorhandenes bürgerliches Engagement sollte hier ernsthaft aufgegriffen, unterstützt und ermöglicht werden“, heißt es in einem Brief, den der Vereinsvorsitzende Norbert Funk jetzt an die Politik gerichtet hat. Er ist überzeugt, dass so „nachfrageorientiertes Bauen gelingen könnte“. Die Wohn-Werkstatt wäre da gerne Leuchtturm-Projekt.
Der Brief ist Teil einer forcierten Öffentlichkeitsarbeit. Schon im Januar wurde eine Bastel- und Malaktion zur Frage „Wie möchte ich in Zukunft wohnen?“gestartet, und in einem leerstehenden Ladenlokal an der Neustraße Info-Material zugänglich gemacht. Das habe Resonanz gefunden, berichtet Vorstandsmitglied Karl-Heinrich Bertelmann. Hoffnungen verbindet der Verein aber vor allem mit der Beteiligung am VHS-Workshop „WohnSinn!“am 8. Mai. Offen sei derzeit aber die Frage, wie dieser organisiert wird.
Der Ratsbeschluss zur Förderung alternativer Wohnformen ist deswegen so wichtig für das Projekt, weil die Vereinsmitglieder ihren Traum ohne Hilfe nicht umsetzen können. In direkter Konkurrenz zu anderen Bietern sei man im Bietergefecht um Grundstücke und Immobilien wegen der geringen finanziellen Potenz chancenlos, sagt Funk. So gibt es eigentlich nur drei Wege zum Ziel: Es findet sich ein Investor, der baut und an die Werkstatt-Familien vermietet. Oder die Mitglieder bilden eine GmbH oder eine Genossenschaft, um am Ende das Objekt sogar
Karl-Heinrich Bertelmann Vorstand Wohn-Werkstatt in gemeinschaftliches Eigentum zu übernehmen. Wie auch immer: Selbst zu bauen scheidet aus.
Und noch etwas mussten die Werkstatt-Familien erkennen: Wie viel langen Atem man braucht – und wie schwer es ist, potenziell Interessierte bei der Stange zu halten. Menschen, die sich dem Verein anschließen, machen sich auf den Weg, anders zu wohnen“, sagt Bertelmann. Aber wenn zum Beispiel Familien nicht die Zeit für eine Langfrist-Perspektive haben und eine andere Lösung finden, sei das gut und zu akzeptieren.
Aktuell aber heißt das auch, dass gerade diese Gruppe im Verein derzeit unterrepräsentiert ist, während die älteren Jahrgänge überbesetzt sind. Je ein Drittel Junge, Alte und Menschen aus der Lebensmitte sei der angestrebte Mix, sagt Funk. Denn das Modell, das der Verein unter Großfamilie der Zukunft begreift, ist nicht nur solidarisch, sondern generationsübergreifend.
Einrichten möchte sich diese Gemeinschaft gerne in urbanem Umfeld und in bezahlbaren Wohnungen. Unter dem gemeinsamen Dach soll sich jeder in einer selbstgewählten Nachbarschaft einbringen, bei Bedarf aber auch die Türe hinter sich schließen können. „Jeder hat seine eigene Wohnung“, betont Funk, das Miteinander spiele sich vor alle im gemeinsam genutzten Garten und Gemeinschaftsräumen ab. Das könnte auch ein Bürgerzentrum in der Nachbarschaft sein“, sagt Funk. Gerne hätte der Verein sein erstes Projekt an der Gielenstraße etabliert. Doch da werde ja jetzt nur ein Supermarkt gebaut.
„Wer sich dem Verein anschließt, macht sich auf den Weg, anders zu wohnen“