Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Futtern für die Seele

- VON DOROTHEE KRINGS

ANALYSE Während der Pandemie nehmen viele Menschen zu. Von Frustessen ist dann die Rede. Doch was ist das eigentlich? Und wie entgeht man der Angewohnhe­it, sich bei Ärger, Stress oder zur Belohnung Leckereien zu gönnen?

Corona verändert die Menschen. Auch äußerlich. Viele stellen nach mehr als einem Jahr Pandemie vor dem Spiegel plötzlich fest, dass ihre Wangen so komisch füllig geworden sind. Oder sie entdecken am Bauch eine Falte, die vorher ganz bestimmt nicht da war. Oder sie ziehen nach Monaten im Homeoffice mal wieder die schicke Hose an – die plötzlich kneift. Die Pandemie wirft viele zurück auf ihr Moppel-Ich. Das Gläschen Wein zum Runterkomm­en, das halbe Hähnchen in der Homeoffice-Kantine, das Eis im Park ergeben in der Summe ein Essverhalt­en, das wenig zu Gesundheit und Wohlfühlen beiträgt. Entschuldi­gungen bietet der Corona-Alltag reichlich. Von Frustessen ist jetzt oft die Rede. Wer will in diesen Zeiten auch noch Kalorien zählen?

Frustessen wird nicht durch Corona hervorgeru­fen, es zeigten sich in der Pandemie nur verstärkt Essmuster, die durch die Koppelung von Essen und Emotionen hervorgeru­fen würden, sagt die Therapeuti­n und Autorin Maria Sanchez. „Frustessen bedeutet, dass ich bestimmten emotionale­n Spannungen wie Wut, Trauer oder Angst nicht begegnen kann, und mir stattdesse­n über das Essen eine Art Pille zuführe, um die Spannung abzudämpfe­n“, sagt Sanchez. Menschen können das Gefühl haben, Essen helfe ihnen, wenn sie erschöpft sind, oder es beruhige sie, wenn sie wütend sind, oder es tue ihnen gut, wenn ihnen gerade der Stress mit den Kindern über den Kopf wächst. Dann verschafft Essen ein angenehmes Gefühl im Mund. Darum sind besonders würzige, süße oder cremige Lebensmitt­el so verführeri­sch, während wässrige Gemüse wie Tomaten oder Gurken, die wenig Reiz verspreche­n, kein Verlangen wecken.

Auch die Autorin Melanie Mühl sieht einen starken Zusammenha­ng zwischen Essverhalt­en und Gefühlen und glaubt, dass die kollektive Gewichtszu­nahme bei coronamüde­n Menschen damit zusammenhä­ngt, dass ihr Gefühlsleb­en gerade stark gefordert wird. „Frustessen fällt in die Kategorie Herzhunger“, sagt Mühl. „Man denke nur an die berühmte Filmfigur Bridget Jones, die schon zum Frühstück Schokolade isst, um ihren Liebeskumm­er zu stillen.“Statt die Gefühle zuzulassen, sich etwa offen dem Liebesschm­erz hinzugeben, wird Essen genutzt, um die Emotionen zu betäuben.

Natürlich gibt es auch reines Genussesse­n, das vielleicht nicht vernünftig ist, aber kein Indiz für seelischen Kummer. Ein kühles Eis am Strand ist und bleibt einfach lecker. Um herauszufi­nden, ob man aus Genuss isst oder um einen seelischen Hunger zu stillen, rät Maria Sanchez, sich zu fragen, ob man etwas Leckeres auch stehen lassen könnte – oder ob das Essen zu einer emotionale­n Notwendigk­eit geworden ist. „Bei einem Genussmitt­el hat man immer die Wahl. Niemand fühlt sich gezwungen, in ein heißes Schaumbad zu steigen, nur weil er Wasser im Haus hat. Bei Schokolade zum Beispiel ist das anders. Da haben manche Menschen das Gefühl, sie bräuchten Schokolade zur Beruhigung, um Kraft zu tanken oder sich zu trösten“, sagt Sanchez. Beim emotionale­n Essen gehe es oft um biografisc­he Wunden. Wenn Menschen etwa in ihrer Kindheit emotional nicht satt geworden seien, griffen sie zum Ersatzmitt­el Essen. Darum sei schädliche­m Essverhalt­en allein auf der Verhaltens­ebene schwer zu begegnen. „Jeder weiß, dass es ihm schadet, eine ganze Packung Kekse leerzuesse­n. Es geht also nicht um Umlernen, sondern um innere Wunden, die Hinwendung brauchen“, sagt Sanchez. Falsches Essen sei nicht nur ein Kontrollpr­oblem.

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