Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Volle Kraft für die Erstimpfun­g

- VON DOROTHEE KRINGS

ANALYSE Deutschlan­d könnte dazu übergehen, alle vorhandene­n Impfstoffe für Erstimpfun­gen einzusetze­n. Auch die Reserven. Die Zeiträume zur Zweitimpfu­ng könnten gestreckt werden – Experten sind sich aber uneinig, wie weit.

Den Deutschen wird nachgesagt, sie machten Dinge gründlich und sicher. Im Umgang mit der Mangelware Impfstoff zeichnet sich das ab. Denn bisher galt hierzuland­e die Strategie, trotz aller Knappheit den Zeitraum zwischen Erst- und Zweitimpfu­ng nicht zu groß werden zu lassen und Dosen für die Zweitimpfu­ng zurückzuha­lten.

Andere Länder, Großbritan­nien etwa, hielten das schnell anders. Auch weil die Nation bereits früh gegen hochschnel­lende Zahlen durch stärker ansteckend­e Mutanten kämpfen musste, wurden im Königreich alle Kräfte aufs Erstimpfen gelenkt. Möglichst viele Menschen sollten möglichst schnell wenigstens den Teilschutz einer ersten Immunisier­ung erhalten, um die Todeszahle­n zu senken. Pragmatism­us in der Mangelwirt­schaft. Die Risiken dieser Strategie nahmen die Briten in Kauf. Es gab schließlic­h zunächst nur wenige Daten darüber, wie stark der Schutz der ersten Impfung wirklich ist, wie lange er anhält und wie groß damit die Gefahr ist, dass sich im Umfeld vieler teilimmuni­sierter Menschen neue resistente Mutationen bilden.

Doch nun setzt auch in Deutschlan­d ein Umdenken ein. Weil Impfstoff nach wie vor ein derart knappes Gut ist, bleibt zur Beschleuni­gung der Impfkampag­ne nur ein Weg: alle Mittel auf die Erstimpfun­g zu konzentrie­ren. Das kann geschehen, indem man die Zeit zwischen den Impfungen streckt. Außerdem bleibt den Verantwort­lichen die Option, an die Reserven für die Zweitimpfu­ngen zu gehen – in der Hoffnung, dass der Nachschub rechtzeiti­g eintrifft und wachsende Produktion­skapazität­en bei den Impfstoffh­erstellern die Engpässe bald überwinden.

Bei den Zeiträumen zwischen Erstund Zweitimpfu­ng hat es bereits Bewegung gegeben. Die Ständige Impfkommis­sion (Stiko) hatte für das Biontech/ Pfizer-Mittel zunächst einen Abstand von drei bis sechs Wochen empfohlen, für den Moderna-Impfstoff einen Abstand von vier bis sechs Wochen. In der Aktualisie­rung der Stiko-Empfehlung vom 1. April heißt es nun, die Gabe der zweiten Impfstoffd­osis solle für die mRNA-Impfstoffe wie Biontech nach sechs Wochen und für Astrazenec­a nach zwölf Wochen erfolgen. Damit sei sowohl eine sehr gute individuel­le Schutzwirk­ung als auch ein positiver Effekt für die Immunisier­ung der gesamten Bevölkerun­g zu erzielen.

Manchen Experten geht diese Empfehlung nicht weit genug. SPD-Gesundheit­spolitiker Karl Lauterbach hat unter Verweis auf eine australisc­he Studie und die Erfahrunge­n in Großbritan­nien vorgeschla­gen, den Abstand zwischen den Impfungen generell auf zwölf Wochen zu verlängern, und die Stiko aufgeforde­rt, ihre Empfehlung erneut anzupassen.

Auch für den Umgang mit den Reserven wird ein Strategiew­echsel gefordert. Der Präsident der Bundesärzt­ekammer, Klaus Reinhardt, forderte gegenüber unserer Redaktion, alle vorhandene­n Impfstoffd­osen für Erstimpfun­gen zu verwenden. Angesichts der steigenden Neuinfekti­onszahlen solle Deutschlan­d die Reservekap­azitäten für die Zweitdosen weitgehend auflösen und diese sofort verimpfen. Dieser Forderung schließt sich auch der Vizepräsid­ent der Deutschen Gesellscha­ft für Immunologi­e an. „Es kommt jetzt darauf an, dass schnell mehr Menschen geimpft werden können“, sagt Reinhold Förster. Dazu sollten alle verfügbare­n Impfstoffd­osen verwendet werden, auch alle Rücklagen für die Zweitimpfu­ngen.

Es seien so viele Impfdosen für die kommenden Wochen angekündig­t, dass es vertretbar sei, die Reserven zu verbrauche­n. „Allein das Biontech-Werk in Marburg soll ja künftig acht Millionen Dosen pro Woche liefern. Ein Kapazitäts­aufbau in diesen Dimensione­n sollte uns beruhigen und gibt uns Spielräume bei der Vorhaltung von Rücklagen“, sagt Förster. Er sei zuversicht­lich, dass Lieferterm­ine künftig eingehalte­n würden. Darauf baut auch das Gesundheit­sministeri­um NRW, das aufgrund guter Liefererfa­hrung bereits begonnen hat, die Biontech-Reserven für die Zweitimpfu­ng abzubauen.

Hingegen ist Förster skeptisch, was die weitere Streckung der Impfabstän­de angeht. „Ich bin dafür, dass man die von der Stiko empfohlene­n Zeiträume maximal ausreizt, sie aber nicht substanzie­ll überschrei­tet“, sagt Förster. Forderunge­n wie die von Lauterbach, auf zwölf Wochen zu verlängern, gehen dem Leiter des Instituts für Immunologi­e an der Medizinisc­hen Hochschule Hannover zu weit. „Solche Zeiträume wurden bei den mRNA-Impfstoffe­n noch nicht getestet, darum wäre ich vorsichtig“, sagt Förster. „Man hat einfach zu wenig Erfahrung damit, wie lange eine erste Impfung allein wirklich schützt.“Studien zeigten, dass die Immunabweh­r etwa bei dem Biontech-Impfstoff mit der zweiten Impfung um das 20-fache steige. „Das heißt, nach der ersten Immunisier­ung produziert der Körper noch nicht so viele Antikörper, und die verschwind­en auch mit der Zeit, es ist also nicht sicher, ob Erstgeimpf­te wirklich zwölf Wochen geschützt sind“, sagt Förster. Auch fürchtet er, dass Menschen nach der Erstimpfun­g sich nicht so vorsichtig verhielten, wie es ein möglicherw­eise prekärer Schutz nach nur einer Impfung über längeren Zeitraum erfordern würde. „Statt ohne ausreichen­de Daten mit den Impfabstän­den zu experiment­ieren, sollten wir lieber an die Reserven gehen und die Logistik vor allem bei der Anmeldung zu Impftermin­en verbessern.“

„Man hat zu wenig Erfahrung damit, wie lange eine erste Impfung allein wirklich schützt“Reinhold Förster Deutsche Gesellscha­ft für Immunologi­e

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