Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Volle Kraft für die Erstimpfung
ANALYSE Deutschland könnte dazu übergehen, alle vorhandenen Impfstoffe für Erstimpfungen einzusetzen. Auch die Reserven. Die Zeiträume zur Zweitimpfung könnten gestreckt werden – Experten sind sich aber uneinig, wie weit.
Den Deutschen wird nachgesagt, sie machten Dinge gründlich und sicher. Im Umgang mit der Mangelware Impfstoff zeichnet sich das ab. Denn bisher galt hierzulande die Strategie, trotz aller Knappheit den Zeitraum zwischen Erst- und Zweitimpfung nicht zu groß werden zu lassen und Dosen für die Zweitimpfung zurückzuhalten.
Andere Länder, Großbritannien etwa, hielten das schnell anders. Auch weil die Nation bereits früh gegen hochschnellende Zahlen durch stärker ansteckende Mutanten kämpfen musste, wurden im Königreich alle Kräfte aufs Erstimpfen gelenkt. Möglichst viele Menschen sollten möglichst schnell wenigstens den Teilschutz einer ersten Immunisierung erhalten, um die Todeszahlen zu senken. Pragmatismus in der Mangelwirtschaft. Die Risiken dieser Strategie nahmen die Briten in Kauf. Es gab schließlich zunächst nur wenige Daten darüber, wie stark der Schutz der ersten Impfung wirklich ist, wie lange er anhält und wie groß damit die Gefahr ist, dass sich im Umfeld vieler teilimmunisierter Menschen neue resistente Mutationen bilden.
Doch nun setzt auch in Deutschland ein Umdenken ein. Weil Impfstoff nach wie vor ein derart knappes Gut ist, bleibt zur Beschleunigung der Impfkampagne nur ein Weg: alle Mittel auf die Erstimpfung zu konzentrieren. Das kann geschehen, indem man die Zeit zwischen den Impfungen streckt. Außerdem bleibt den Verantwortlichen die Option, an die Reserven für die Zweitimpfungen zu gehen – in der Hoffnung, dass der Nachschub rechtzeitig eintrifft und wachsende Produktionskapazitäten bei den Impfstoffherstellern die Engpässe bald überwinden.
Bei den Zeiträumen zwischen Erstund Zweitimpfung hat es bereits Bewegung gegeben. Die Ständige Impfkommission (Stiko) hatte für das Biontech/ Pfizer-Mittel zunächst einen Abstand von drei bis sechs Wochen empfohlen, für den Moderna-Impfstoff einen Abstand von vier bis sechs Wochen. In der Aktualisierung der Stiko-Empfehlung vom 1. April heißt es nun, die Gabe der zweiten Impfstoffdosis solle für die mRNA-Impfstoffe wie Biontech nach sechs Wochen und für Astrazeneca nach zwölf Wochen erfolgen. Damit sei sowohl eine sehr gute individuelle Schutzwirkung als auch ein positiver Effekt für die Immunisierung der gesamten Bevölkerung zu erzielen.
Manchen Experten geht diese Empfehlung nicht weit genug. SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach hat unter Verweis auf eine australische Studie und die Erfahrungen in Großbritannien vorgeschlagen, den Abstand zwischen den Impfungen generell auf zwölf Wochen zu verlängern, und die Stiko aufgefordert, ihre Empfehlung erneut anzupassen.
Auch für den Umgang mit den Reserven wird ein Strategiewechsel gefordert. Der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, forderte gegenüber unserer Redaktion, alle vorhandenen Impfstoffdosen für Erstimpfungen zu verwenden. Angesichts der steigenden Neuinfektionszahlen solle Deutschland die Reservekapazitäten für die Zweitdosen weitgehend auflösen und diese sofort verimpfen. Dieser Forderung schließt sich auch der Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Immunologie an. „Es kommt jetzt darauf an, dass schnell mehr Menschen geimpft werden können“, sagt Reinhold Förster. Dazu sollten alle verfügbaren Impfstoffdosen verwendet werden, auch alle Rücklagen für die Zweitimpfungen.
Es seien so viele Impfdosen für die kommenden Wochen angekündigt, dass es vertretbar sei, die Reserven zu verbrauchen. „Allein das Biontech-Werk in Marburg soll ja künftig acht Millionen Dosen pro Woche liefern. Ein Kapazitätsaufbau in diesen Dimensionen sollte uns beruhigen und gibt uns Spielräume bei der Vorhaltung von Rücklagen“, sagt Förster. Er sei zuversichtlich, dass Liefertermine künftig eingehalten würden. Darauf baut auch das Gesundheitsministerium NRW, das aufgrund guter Liefererfahrung bereits begonnen hat, die Biontech-Reserven für die Zweitimpfung abzubauen.
Hingegen ist Förster skeptisch, was die weitere Streckung der Impfabstände angeht. „Ich bin dafür, dass man die von der Stiko empfohlenen Zeiträume maximal ausreizt, sie aber nicht substanziell überschreitet“, sagt Förster. Forderungen wie die von Lauterbach, auf zwölf Wochen zu verlängern, gehen dem Leiter des Instituts für Immunologie an der Medizinischen Hochschule Hannover zu weit. „Solche Zeiträume wurden bei den mRNA-Impfstoffen noch nicht getestet, darum wäre ich vorsichtig“, sagt Förster. „Man hat einfach zu wenig Erfahrung damit, wie lange eine erste Impfung allein wirklich schützt.“Studien zeigten, dass die Immunabwehr etwa bei dem Biontech-Impfstoff mit der zweiten Impfung um das 20-fache steige. „Das heißt, nach der ersten Immunisierung produziert der Körper noch nicht so viele Antikörper, und die verschwinden auch mit der Zeit, es ist also nicht sicher, ob Erstgeimpfte wirklich zwölf Wochen geschützt sind“, sagt Förster. Auch fürchtet er, dass Menschen nach der Erstimpfung sich nicht so vorsichtig verhielten, wie es ein möglicherweise prekärer Schutz nach nur einer Impfung über längeren Zeitraum erfordern würde. „Statt ohne ausreichende Daten mit den Impfabständen zu experimentieren, sollten wir lieber an die Reserven gehen und die Logistik vor allem bei der Anmeldung zu Impfterminen verbessern.“
„Man hat zu wenig Erfahrung damit, wie lange eine erste Impfung allein wirklich schützt“Reinhold Förster Deutsche Gesellschaft für Immunologie