Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Kriegsgetöse um den Donbass
Nach dem russischen Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze und mehreren Toten wächst die Angst vor einer Eskalation.
KIEW Panzer auf abgeflachten Spezialwagons, Militär-Lkw mit überklebten Kennzeichen, rollende Raketenträger: Die Bilder und Berichte von einer massiven russischen Truppenverstärkung im Grenzgebiet zur Ukraine haben international Besorgnis ausgelöst. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sicherte dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj am Dienstag in einem Telefonat die Solidarität des Bündnisses zu. Ein militärisches Eingreifen komme aber nicht in Frage. Das hatte zuvor bei US-Präsident Joe Biden noch anders geklungen. Er hatte der Ukraine „die unerschütterliche Unterstützung der USA angesichts der andauernden russischen Aggression“zugesagt. Bundesaußenminister Heiko Maas rief mit seinem französischen Kollegen Jean-Yves Le Drian zur „sofortigen Deeskalation“auf.
In Moskau reagierte Kremlsprecher Dmitri Peskow scharf auf die Wortmeldungen aus Kiew und Washington. Er warnte vor einem Anstieg der Spannungen. Eine Annäherung der Ukraine an die Nato werde die Situation „verschlimmern“. Zuvor hatte Selenskyj bei Twitter geschrieben: „Die Nato ist der einzige Weg, um den Krieg im Donbass zu beenden.“Damit bezog er sich auf den Konflikt zwischen ukrainischer Armee und prorussischen Separatisten in den Regionen Donezk und Luhansk, der seit 2014 andauert und mehr als 13.000 Todesopfer gefordert hat. Vorangegangen waren damals der prowestliche Maidan-Aufstand in Kiew und die Eroberung und Annexion der ukrainischen Schwarzmeer-Halbinsel Krim.
In den östlich angrenzenden Regionen hat die russische Armee nun ihre Truppenpräsenz verstärkt. Doch es blieb nicht bei Drohgebärden: Die verfeindeten Kräfte im Donbass verletzten die Waffenruhe zuletzt immer wieder schwer. Die Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) berichtete allein für den 2. April von mehr als 1000 Schusswechseln und etwa 500 Explosionen – rund zehnmal so viele Vorfälle wie in den Tagen zuvor. Nach Angaben aus Kiew starben dabei sechs ukrainische Soldaten. In Moskau dagegen zeigten staatsnahe Medien Bilder eines zerstörten Hauses in der Region Donezk. Dort seien bei einem ukrainischen Drohnenangriff ein fünfjähriges Kind getötet und seine 67-jährige Großmutter schwer verletzt worden. Eine unabhängige Bestätigung für die Vorfälle gab es zunächst nicht.
Der Sprecher der russischen Staatsduma, Wjatscheslaw Wolodin, warf Selenskyj vor, mit Drohnen einen Krieg gegen das eigene Volk zu führen. Die Tragödie habe sich „mit dem Einverständnis der transatlantischen Schutzherren“ereignet. Die USA wären demnach mitverantwortlich. Zuvor hatte die russische Armeeführung eine groß angelegte Anti-Drohnen-Übung mit rund 15.000 Soldaten in der Krisenregion angekündigt. Das Verteidigungsministerium in Kiew teilte seinerseits mit, man plane ein gemeinsames Manöver mit 1000 Nato-Soldaten aus fünf Staaten der Allianz. Geübt werde die Landesverteidigung, gefolgt von einer „Offensive, um die territoriale Integrität eines angegriffenen Staates wiederherzustellen“.
Droht ein offener russisch-ukrainischer Krieg? Die meisten westlichen Experten deuten die Eskalation eher als Moskauer „Härtetest“für den neuen US-Präsidenten Biden.
„Die Nato ist der einzige Weg, um den Krieg im Donbass zu beenden“Wolodymyr Selenskyj Präsident der Ukraine
So erwartet der russische Militärkenner Michael Kofman, der in Washington lebt und forscht, in den kommenden Tagen weitere „Provokationen und künstlich geschaffene Duellsituationen“in der Grenzregion. Kommentatoren verweisen darauf, dass die Gewalt im Donbass bereits im Januar mit Bidens Amtsantritt zugenommen habe. Der Osteuropa-Experte Janis Kluge glaubt, dass der Konflikt im Donbass für Moskau „ein Hebel ist, um den Druck auf den Westen nach Belieben zu erhöhen oder zu verringern“.
Doch es gibt auch pessimistischere Stimmen. Demnach wären die Muskelspiele am Schwarzen Meer eine russische Reaktion auf Bidens Kampfansage an Wladimir Putin in einem Interview Mitte März. Damals hatte der US-Präsident Putin als „Killer“bezeichnet. In Moskau reagierte unter anderem Duma-Sprecher Wolodin scharf: „Putin ist unser Präsident. Angriffe auf ihn sind Angriffe auf unser Land.“Der kremlkritische russische Publizist Iwan Dawydow verweist auf die innenpolitischen Zusammenhänge:
Die neue Konfrontation mit den USA helfe Putin, von eigenen, vor allem ökonomischen Schwierigkeiten abzulenken: „Der wahre Feind des Regimes ist das Volk, dessen Geduld zwar groß ist, aber nicht grenzenlos.“
Tatsächlich fiel die Zuspitzung im Donbass zu Jahresbeginn auch mit der Rückkehr von Putin-Herausforderer Alexei Nawalny nach Moskau zusammen. Der Januar war in Russland ein Monat landesweiter Proteste. Und ein weiterer Faktor verdüstert die Prognosen. Die annektierte
Krim leidet seit 2017 unter Wassermangel, da die Ukraine die Versorgung vom Festland über den NordKrim-Kanal durch den Bau eines Staudamms unterbunden hat. Seither reißen die Spekulationen nicht ab, Russland plane die Eroberung eines Landkorridors am Nordrand des Schwarzen Meeres. Die ukrainische Militärführung spricht von rund 28.000 russischen Söldnern im Donbass und 33.000 Soldaten auf der Krim. Immerhin: Einen Angriff von dort erwartet der Kiewer Generalstab derzeit nicht.