Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Der junge Kanzler sieht plötzlich alt aus
ANALYSE Korruptionsaffäre über skrupelloses Postenschachern, Konflikt mit der Kirche, Impfdosen-Streit mit der EU und mehr: An Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz wachsen Zweifel über seine Regierungsfähigkeit und Glaubwürdigkeit.
WIEN Die bislang schwerste Krise der Kurz-Regierung wurzelt im Ibiza-Skandal. Heinz-Christian Strache stürzte als Chef der Rechtspartei FPÖ und Vizekanzler über seine auf Video dokumentierten Machtfantasien und Korruption. Zwei Jahre später droht auch der Kanzler an übersteigerter Machtgier und Mangel an staatlichem Verantwortungsbewusstsein zu scheitern. Von einem „neuen Regierungsstil“, den Kurz 2017 versprach, war bislang wenig zu sehen. Die konservative ÖVP sieht unter ihrem 34-jährigen Chef älter aus denn je.
Zu verdanken hat Sebastian Kurz die Krise der für Österreichs Verhältnisse erstaunlich unerschrockenen Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA), die derzeit Chat-Protokolle zwischen dem Kanzler und seinen Vertrauten durchleuchtet. Ausgang war die sogenannte Casino-Affäre aus der Zeit der ÖVP/FPÖ-Koalition, bei der es um parteipolitisch gefärbte Postenbesetzungen sowie gesetzliche Gefälligkeiten für die österreichische Glückspielbranche ging. „Die Novomatic zahlt alle!“, prahlt Strache auf dem Ibiza-Video über den heimischen Spielekonzern und schwadronierte über Wege der illegalen Parteienfinanzierung. Ein SMS-Schriftverkehr mit dem damaligen Novomatic-Chef veranlasste seither die WKStA, gegen Finanzminister Gernot Blümel, Busenfreund von Kurz, wegen des Verdachts auf Bestechung zu ermitteln.
Als die WKStA im Finanzministerium eine Razzia anordnete, brannte auch im Kanzleramt der Hut. Kurz startete eine Kampagne gegen die WKStA: Er stellte deren Unabhängigkeit in Frage, verdächtigte sie als Instrument der oppositionellen Sozialdemokraten und warf den Ermittlern „eine Reihe von Verfehlungen“vor, ohne Belege dafür vorzuweisen. Wenig später stellte sich heraus, dass die ÖVP im Justizministerium bestens vernetzt ist: Der mittlerweile vom Dienst suspendierte Sektionschef Christian Pilnacek, dem als mächtigsten Justizbeamten die Kontrolle der Staatsanwaltschaften unterstellt waren, zählt zum engsten Kreis von Kurz und stand mit dem Umfeld von Finanzminister Blümel in Kontakt – weswegen die WKStA sein Smartphone konfisziert hat. Auf Anfrage eines Mitarbeiters Blümels,
wie man auf die Razzia reagieren solle, antwortete Pilnacek: „Das ist ein Putsch!“. Er riet, Beschwerde zu erheben und fragte etwas ungelenk nach: „Wer vorbereitet Gernot auf seine Vernehmung?“
Es kommt noch dicker: Bei der Postenschacherei in der neu strukturierten staatlichen Beteiligungsholding ÖBAG, die Vermögenswerte von 26 Milliarden Euro verwaltet, steckt Kurz mittendrin. Wie die Ermittlungen der WKStA ergaben, haben Kurz und Blümel den 45-jährigen Tiroler Thomas Schmid als neuen ÖBAG-Chef großzügig gefördert. „Kriegst eh alles, was du willst“, beruhigte ihn der Kanzler kurz vor der Ernennung. Auch Blümel schrieb an seinen ehemaligen Generalsekretär: „Keine Sorge! Du bist Familie!“
Wie das Chat-Protokoll offenbart, war die Ausschreibung des Postens auf Schmid zugeschnitten. Dass er die dafür vorgeschriebene internationale Managererfahrung nicht hatte, wurde ignoriert. Letztlich hat Schmid die Mitglieder des Aufsichtsrates im Einvernehmen mit der ÖVP-Führung selbst aussuchen können. Schmid war dabei noch dazu nicht frei von Sexismus: Bei der mühsamen Suche nach weiblichen Kandidaten teilte er seinen Gönnern mit, wer „steuerbar“sei und wer nicht. Letztlich gratulierte Blümel Schmid via Handy zum gelungenen Postenschacher: „SchmidAG fertig!“Am Dienstag beugte sich Schmid dem Druck: Er werde am Ende seines Vertrag März 2022 zurücktreten. Die Opposition fordert seinen sofortigen Abgang.
Die Chat-Protokolle enthüllten auch einen Konflikt der christdemokratischen ÖVP mit der katholischen Kirche. Schmid, damals Blümels rechte Hand, erzählte Kurz vor zwei Jahren von seinem Vorhaben, die großzügigen Steuerprivilegien der Kirche zu kürzen. „Ja super. Bitte Vollgas geben“, antwortete der Kanzler. Nach einem Gespräch mit dem Generalsekretär der katholischen Bischofskonferenz, Peter Schipka, berichtete Schmid an Kurz: „Also Schipka war fertig!... Er war zunächst rot dann blass dann zittrig…“Der Kanzler fand das in seiner Antwort „Super! danke vielmals!“Zurück kam ein unterwürfiges Bekenntnis: „Ich liebe meinen Kanzler.“
Der evangelisch-lutherische Bischof Michael Chalupka fand den Jugendjargon „irritierend“, er verrate „eine mangelnde Achtung des Gegenübers und eine klammheimliche Freude an der Demütigung“. Kommentatoren vermissen bei Kurz und seinem Umfeld die charakterliche Reife fürs Regieren und das fehlende staatspolitische Verantwortungsbewusstsein. Zudem hatte Kurz bislang nicht die Größe, sich öffentlich zu entschuldigen. Auch international ist das Superstar-Image von Kurz schwer lädiert, nicht zuletzt wegen seiner jüngsten Attacke auf die Europäische Union wegen der knappen Impfstoffreserven – nichts weiter als ein Ablenkungsmanöver von eigenen Versäumnissen. So hatte die Regierung im Januar rund 200.000 zusätzliche Dosen für Österreich nicht abgerufen, doch Kurz warf Brüssel vor, den Stoff „nicht fair“zu verteilen. Der Vorwurf stieß bei vielen EU-Regierungschefs auf Unverständnis, internationale Medien übergossen Kurz mit Häme.
Auch in heimischen Umfragen ist das sinkende Ansehen von Kurz belegt. Vor einem Jahr bekannten 52 Prozent der befragten Österreicher, sie würden Kurz als Kanzler wiederwählen; derzeit sind es nur noch 29 Prozent. Hauptgrund ist die wachsende Unzufriedenheit mit dem Pandemie-Krisenmanagement, das die Skandale über Postenschacherei und „Freunderlwirtschaft“großteils überlagert.
„Ja super. Bitte Vollgas geben.“Sebastian Kurz zu Generalsekretär Thomas Schmid über dessen Vorhaben, kirchliche Steuerprivilegien zu kürzen