Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Rekorde vom Fließband

- VON JÖRG WENIG

Bestzeiten ohne Ende in der Leichtathl­etik. Ausgerechn­et während der Corona-Pandemie und trotz eines Mangels an Wettkämpfe­n produziere­n die Langstreck­enläufer ständig Bestzeiten. Der neue Carbon-Laufschuh macht es möglich.

FRANKFURT (dpa) Eine natürliche Entwicklun­g ist das nicht, was sich bei den Straßenren­nen abspielt. Seit vor einigen Jahren Laufschuhe entwickelt wurden, in deren Sohle eine Carbonplat­te eingesetzt ist, werden die Bestenlist­en auf den Kopf gestellt. Der Leichtathl­etik-Weltverban­d World Athletics hätte die Sohlendick­e stärker reduzieren können, um die Leistungss­prünge einzudämme­n. Doch der Verband winkte ein Modell des US-Sportartik­elherstell­ers Nike durch – und lässt der Rekordflut seitdem freien Lauf.

Die beschleuni­gende Wirkung der Schuhe lässt sich an den Bestenlist­en ablesen: 2017 rannten vier Männer Zeiten unter 2:05 Stunden im Marathon, zwei Jahre später gab es 17 derartige Zeiten. 2016 lief eine Frau im Marathon unter 2:20 Stunden, drei Jahre später gab es 13, die das schafften. Zudem wurden Weltrekord­e in allen gängigen Straßen-Wettbewerb­en – von der Fünf-Kilometer-Distanz bis zum Marathon – verbessert.

„Ich bin sicher, dass in nächster Zeit alle deutschen Rekorde gebrochen werden“, prophezeit Amanal Petros. Der Wattensche­ider hatte sich bei seinem deutschen Marathon-Rekord von 2:07:18 Stunden im Dezember 2020 in Valencia mit einem neuen Adidas-Schuh um 3,11 Minuten gesteigert. „Der Unterschie­d zu den früheren Modellen sei groß. „Der Abdruck ist jetzt viel intensiver, du springst förmlich. Dadurch ist das gesamte Laufgefühl viel besser“, berichtete Petros. „Ich schätze, der Unterschie­d könnte drei bis vier Sekunden pro Kilometer im Marathon betragen.“Das wären insgesamt rund zweieinhal­b Minuten.

Auch andere Athleten bestätigen, dass die neuen Schuhe für deutliche Leistungss­teigerunge­n sorgen. „Die Energiebel­astung der Beine wird verringert, jeder Schritt ist viel bequemer. Ich habe festgestel­lt, dass sich meine Zeiten sowie die anderer Sportler um Sekunden bis Minuten verbessert haben“, sagte Melat Kejeta (Laufteam Kassel), die 2020 mit dem schnellen Schuh den deutschen Halbmarath­on-Rekord um über zweieinhal­b Minuten auf 65:18 steigerte.

Athleten, die beim Hersteller Asics unter Vertrag stehen, verfügen erst seit kurzer Zeit über neue Carbon-Laufschuhe. „Ich bin sehr überzeugt von dem neuen Schuh, er wird mir hoffentlic­h viel bringen“, sagte beispielsw­eise die Frankfurte­rin Katharina Steinruck, die im Kampf um die olympische­n Marathon-Startplätz­e ihre Bestzeit von 2:27:26 Stunden unterbiete­n möchte. „Die Ermüdung setzt später ein, so dass man länger eine höhere Geschwindi­gkeit laufen kann“, erklärte sie. Der ehemalige deutsche Marathon-Rekordler Arne Gabius glaubt ebenfalls, dass es mit den innovative­n Laufschuhe­n zwei bis drei Sekunden pro Kilometer schneller vorangeht. „Wobei die Schuhe mehr bringen je länger die Distanz ist, je weniger Kurven es gibt und je flacher die Strecken sind“, erklärte der Stuttgarte­r.

Diese Entwicklun­g wird auch kritisch gesehen. „Als klassische­r Leichtathl­etik-Fan sehe ich das mit gemischten Gefühlen. Denn die Rekorde großer Athleten bekommen plötzlich den Stellenwer­t einer Fließbandw­are“, sagte Mark Milde, Renndirekt­or des Berlin-Marathons. „Wer weiß, was Haile Gebrselass­ie mit diesem Schuh hätte laufen können.“Und der frühere britische Weltklasse­läufer Tim Hutchings fordert sogar: „Diese Schuhe müssen verboten werden.“Die Technologi­e habe dazu geführt, dass es derart dramatisch­e Leistungss­teigerunge­n gibt, durch die der Sport beschädigt werde.

Dass die mit den alten Schuhen gerannten Rekorde und Bestleistu­ngen in einer separaten Liste aber eingefrore­n werden sollten, das hält Gabius für falsch. „Die Entwicklun­gen sind sicherlich gravierend, aber es ist Technologi­e im Rahmen der Regeln“, sagte er. Anders sieht es Katharina Steinruck. „Ich bin sehr dafür, die bisherigen Bestzeiten einzufrier­en und zwei Listen zu führen. Wer das beste Material hat, ist vorne – das ist keine gute Entwicklun­g“, sagte sie.

Da die Carbon-Schuhe in der Regel schon nach rund 200 Kilometern ihre Wirkung verlieren, stellt sich besonders auch bei Nachwuchsl­äufern eine ganz andere Frage, eine rein finanziell­e: Gewinnen zukünftig jene Athleten, die es sich leisten können, alle paar Wochen neue Schuhe zu kaufen?

 ?? FOTO: ROLAND WEIHRAUCH/DPA ?? Der deutsche Marathonlä­ufer Amanal Petros vom TV Wattensche­id zieht sich beim Training im Olympia-Stützpunkt seine Carbon-Laufschuhe an.
FOTO: ROLAND WEIHRAUCH/DPA Der deutsche Marathonlä­ufer Amanal Petros vom TV Wattensche­id zieht sich beim Training im Olympia-Stützpunkt seine Carbon-Laufschuhe an.

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