Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Voss setzt Signal gegen Sexualisierung
Die Dormagenerin trägt zum Auftakt der Turn-Europameisterschaft in Basel im Gegensatz zum sonst üblichen knappen, badeanzug-ähnlichen Dress als erste deutsche Turnerin einen Ganzkörperanzug – und ist „stolz darauf“.
DORMAGEN Welch ein grandioser Auftritt! Zum Auftakt der Turn-Europameisterschaften in Basel präsentierte sich Sarah Voss im eleganten schwarzen Ganzkörperanzug. Selbstbewusst, ja fast majestätisch schritt sie vom Turnpodium in der St. Jakobshalle – und setzte damit ein Signal: Deutschlands Turnerinnen sagen der Sexualisierung in ihrer Sportart den Kampf an. „Als Teil der deutschen Turn-Nationalmannschaft sind wir für viele jüngere Sportlerinnen auch ein Vorbild und möchten ihnen damit eine Möglichkeit aufzeigen, wie sie sich auch in einer anderen Bekleidungsform ästhetisch präsentieren können, ohne sich unwohl zu fühlen“, sagt die WM-Siebte am Balken.
Sie selbst fühlte sich sichtbar wohl, empfand ihr ganz und gar ungewöhnliches Outfit sogar als elegant. „Ich bin stolz, die Erste zu sein, die heute diesen Anzug tragen darf“, sagte die Rheinfelderin, die mit ihrem glitzernden Langbeindress in Schwarz-Rot sowohl am Schwebebalken als auch beim Sprung erstaunte Blicke auf sich zog. „Ich fühle mich super wohl, das ist super bequem. Ich finde, es sieht cool aus.“Üblich sind eigentlich knappe, badeanzug-ähnliche Anzüge, die von Außenstehenden als aufreizend angesehen werden können, bei manchen Turnerinnen aber das Schamgefühl verletzen. Voss: „Man bewegt sich sehr viel und fühlt sich nicht immer 100 Prozent wohl.“
Schon beim Einturnen war der 21-Jährigen die Wirkung ihres Auftritts sehr bewusst geworden, Kritik an ihrer Aktion habe sie indes nicht wahrgenommen, versichert sie. Ganz im Gegenteil: „Bei den Schwedinnen zum Beispiel gingen die Daumen hoch.“Der 2007 im Kunstturnen eingeführte „Code de Pointage“, der alle Übungen mit ihrem Schwierigkeitsgrad penibel auflistet, lässt den von der Studentin ausgewählten Anzug ausdrücklich zu. Ganz neu ist er auf der internationalen Bühne freilich nicht, er wurde bislang aber nahezu ausschließlich aus religiösen Gründen getragen. So produzierte der Sportartikelhersteller Nike schon 2006 in Zusammenarbeit mit der UNHCR Volleyball-Trikots für muslimische
Frauen in somalischen Flüchtlingslagern in Kenia. Die Trikots bestanden aus einer Kopfbedeckung, einem langärmligen Hemd und einer weiten knöchellangen Hose. Die Goldmedaillengewinnerin der Asienspiele 2006 im 200-Meter-Lauf, Ruqaya al-Ghasara aus Bahrain, trug bei ihrem Sieg einen Ganzkörperanzug sowie einen Hidschab mit dem Nike-Logo.
Bundestrainerin Ulla Koch unterstützt die mutige Demonstration ihres Schützlings ganz ausdrücklich: „Niemand sollte gezwungen werden, sich in einer Sportart aufgrund der Bekleidung unwohl zu fühlen. Mir ist es wichtig, dass die Athletinnen selbstbewusst entscheiden können, in welchem Outfit sie ihre Übungen präsentieren.“Die Idee dazu sei ihren Turnerinnen bereits im vergangenen Sommer gekommen. „Unser Kulturwandel hat schon vor einiger Zeit eingesetzt.“
Damals sei eine Sportlerin zu ihr gekommen und habe gesagt, dass sie sich mit dem normalen Anzug nackt fühle. Darauf müsse eine Trainerin reagieren. „Unsere Mädels sollen sich wohlfühlen“, sagt sie. „Viele wissen gar nicht, dass wir lang turnen dürfen.“
In Erinnerung geblieben ist natürlich der Skandal um den ehemaligen US-Mannschaftsarzt Larry Nassar: Im September 2016 hatten die beiden Journalisten Tim Evans und Marisa Kwiatkowski vom Indianapolis Star den sexuellen Missbrauch durch den Arzt des US-Turnverbandes und der Michigan-State-Universität in mutmaßlich mehr als 500 Fällen öffentlich gemacht. Der Missbrauch fand seit den 1990er-Jahren statt, und Larry Nassar wurde 2018 in zwei verschiedenen Verfahren verurteilt – zu insgesamt 175 Jahren Gefängnis.
Am Freitag im Finale des Mehrkampfs
ab 13.30 Uhr wollen dann auch Voss' Teamkolleginnen Elisabeth Seitz und Kim Bui mit den selbstdesignten und handgeschneiderten langen Gymnastikanzügen aufs Podium gehen. Rekordmeisterin Seitz, Olympia-Vierte von 2016 in Rio de Janeiro, hatte zuletzt mehrfach beklagt, dass immer wieder Fotos von ihr mit anzüglichen Motiven veröffentlicht werden, „die mir auch überhaupt nicht gefallen, eben weil mir in den Schritt fotografiert wurde.“
„Die beiden wollen darum noch mal das I-Tüpfelchen draufsetzen und dort ihre Anzüge präsentieren“, kündigte Sarah Voss an. Sie und ihre Teamkolleginnen wünschen sich, dass auch andere Sportlerinnen nun ihrem Beispiel folgen. Voss: „Wir haben erst mal den Anstoß gegeben. Wir freuen uns, wenn andere die Innovation aufgreifen und wir einen Trend gesetzt haben.“