Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Ein Fahrplan für den Strukturwandel
Das nahende Ende der Braunkohleverstromung läutet eine Zeitenwende ein. Was der Reviervertrag für den Rhein-Kreis bedeutet.
RHEIN-KREIS Pionier- und Gründergeist – darauf wird es ankommen. Das betont Landrat Hans-Jürgen Petrauschke. Das nahende Ende der Braunkohleverstromung bedeutet schließlich eine Zeitenwende. Mit dem „Reviervertrag“, den Land und Vertreter der Region in dieser Woche unterzeichnet haben, werden Ziele und Instrumente festgelegt, um den Strukturwandel zu meistern. „Wir werden alles daran setzen, Arbeitsplätze, Wohlstand und Lebensqualität im Rhein-Kreis Neuss zu erhalten und zu erhöhen“, betont der Landrat. „Dafür brauchen wir Tatendrang, eine gewisse Risikobereitschaft und kluges unternehmerisches Denken.“Gefordert sei auch Mut. „Wir müssen die Chance sehen und dürfen nicht in Bedenken verharren.“
Es geht schließlich darum, wie die Menschen in der Region in Zukunft leben und arbeiten. Der Strukturwandel ist nicht nur eine Jahrhundertherausforderung, sondern eine Gemeinschaftsaufgabe, quer über Parteigrenzen, Kommunen und lokale Interessen hinweg. Bis spätestens 2038 steigt Deutschland aus der Kohle-Verstromung aus, bis 2030 schaltet vor allem das Rheinische Revier seine Blöcke ab. Zur Unterstützung überweist die Bundesregierung bis 2038 insgesamt 14,8 Milliarden Euro nach NRW. „Das Land flankiert dies zusätzlich mit eigenen Mitteln in Milliardenhöhe“, erklärt NRW-Ministerpräsident Armin Laschet. „Nun geht es darum, auf dieser Basis Projekte und Ideen aus der Region in die Umsetzung zu bringen.“Um Wandel zu ermöglichen und Brüche zu vermeiden.
Der Reviervertrag markiert daher eine wichtige Wegmarke, er ist ein Arbeitsauftrag. Mit der Unterzeichnung wurde auch das Wirtschaftsund Strukturprogramm (WSP) 1.1, das die Förderung von konkreten Projekten vorsieht, offiziell an die NRW-Landesregierung zur weiteren Beratung übergeben. Jetzt geht die Arbeit erst richtig los.
Für den Rhein-Kreis Neuss gibt es zahlreiche Projekte, die nun den nächsten Schritt in Richtung Realisierung machen sollen. „Wir dürfen das nicht versemmeln. Es geht um die Zukunft der gesamten Region“, mahnt der FDP-Bundestagsabgeordnete Bijan Djir-Sarai an. Vier zentrale Zukunftsfelder werden im WSP ausgemacht: Energie und Industrie, Ressourcen und Agrobusiness, Innovation und Bildung sowie Raum und Infrastruktur. Natürlich korrelieren sie miteinander. Mit Blick auf die Wirtschaftsstruktur in der Region lässt sich jedoch herausstellen, was für den Rhein-Kreis von besonderer Bedeutung ist. Jürgen Steinmetz, Hauptgeschäftsführer der Industrieund Handelskammer (IHK) Mittlerer Niederrhein, nennt die Zukunftsfelder „Industrie und Energie“sowie „Innovation und Bildung“. Mit Blick auf die energieintensiven Unternehmen, zum Beispiel die Aluminiumund die Lebensmittelindustrie, sei ersteres besonders wichtig, mit Blick auf Gründer- und Pioniergeist sowie Fachkräfte letzteres. „Grüner Wasserstoff zum Beispiel ist in aller Munde. Was wir hinkriegen müssen, ist die wirtschaftliche industrielle Anwendung“, sagt Steinmetz. Mit Blick auf Innovationen und Gründergeist sei die Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Hochschulen für angewandte Wissenschaften enorm wichtig.
Entsprechende Projekte im Rhein-Kreis – wie das Launch-Center für die Lebensmittelwirtschaft (LCL) oder das Global Entrepreneurship Centre (GEC) – sind bereits auf den Weg gebracht. Wichtig wäre auch die Nähe zum geplanten Hyperscale-Rechenzentrum, für das Rommerskirchen und Nievenheim als Standorte in Frage kommen, samt Datendrehkreuz und im Umkreis von 30 Kilometer gelegenem Digitalpark, also einer Gewerbefläche, auf der sich Unternehmen mit digitalen Geschäftsmodellen ansiedeln. Hinzu kommt: Der Kreis soll Wasserstoff-Modellregion werden.
Der Schlüssel zum erfolgreichen Gelingen des Strukturwandels und den Erhalt von Wertschöpfung ist die Versorgungssicherheit mit bezahlbarem Strom. „Das gilt für die Aluminiumindustrie ebenso wie für die chemische Industrie und die Lebensmittelproduktion“, betont Petrauschke. „Auch ein Hyperscale-Rechenzentrum und einen Digitalpark wird es nur dort geben, wo es sicheren, bezahlbaren Strom gibt.“Zudem geht es um ganz fundamentale Dinge: Die Grundnahrungsmittelproduktion im Neusser Hafen zum Beispiel sorgt nicht nur für gute und sichere Arbeitsplätze, sondern stellt die Lebensmittelversorgung von Millionen von Menschen sicher. Und Nachhaltigkeit und Innovationen sind dort Tagesgeschäft.
Die Versorgungssicherheit und die Bezahlbarkeit von Strom sind folglich die Grundfesten, auf denen die Wirtschaft, der Wohlstand und die Lebensqualität in der Region fußen. Das nehmen auch die Unterzeichner des Reviervertrags in den Blick, der eine ganze Reihe ambitionierter Absichtserklärungen enthält. Drei Beispiele: In den nächsten zehn Jahren soll das Rheinische Revier – erstens – zur erfolgreichsten wirtschaftlichen Transformationsregion und – zweitens – zur attraktivsten Wirtschaftsregion in Europa gemacht werden. Und im Zuge des Europäischen Green Deal soll es – drittens – zu einer Demonstrationsregion für klimaneutrale Industrie mit internationaler Strahlkraft entwickelt werden.
Das soll nicht nur mit der Schaffung von hochwertigen Arbeitsplätzen sowie Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten für die Menschen im Rheinischen Revier und insbesondere die rund 15.000 direkt und indirekt betroffenen Beschäftigten in der Braunkohlewirtschaft einhergehen. Es geht auch um die rund 50.000 gut bezahlten Arbeitsplätze in den Wertschöpfungsketten der energieintensiven Industrie im
Rheinischen Revier und deren Zukunftsfähigkeit. Mit dem Reviervertrag und dem WSP ist das Fundament festgelegt. Die Umsetzung der Jahrhundertaufgabe Strukturwandel läuft bereits. Wichtig ist dabei auch Verlässlichkeit mit Blick auf die politischen Leitentscheidungen. Und Tatkraft. „Die Rahmenbedingungen stehen“, sagt Jürgen Steinmetz. Aber sie bedeuten auch eine Verpflichtung: „Alle müssen liefern.“