Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Zeitlos, abstrakt und allegorisch
Die 75. Ruhrfestspiele finden trotz der Pandemie statt, wenn auch momentan nur digital. Zur Eröffnung gab es modernes No-Theater aus Frankreich.
DÜSSELDORF Durchs gläserne Foyer geht es mit dem Blick der Kamera immer dem leuchtenden Streifen nach, die Treppen hinauf, in den leeren Zuschauerraum und auf die Bühne des Festspielhauses. Hier, wo eigentlich mit zahlreichen Gästen die Ruhrfestspiele eröffnet worden wären, steht nur ein Rednerpult. Die zwei prominentesten Redner sprechen allerdings via Bildschirm zum Publikum, das sich zu Hause versammelt hat. Das ist doppelt schade, denn es gäbe richtig etwas zu feiern: Die Ruhrfestspiele werden 75 Jahre alt.
Doch während das Theaterfestival vergangenes Jahr pandemiebedingt ausfiel, hat man sich nun auf digitale Formate verständigt und hofft darauf, die zweite Hälfte der bis 20. Juni dauernden Ruhrfestspiele zumindest teilweise noch live spielen zu können.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier würdigt das Festival und findet einfühlende Worte zur Situation. Kultur sei unverzichtbar, aber sie sei mehr, nämlich Arbeit: „Viele Künstler sind durch Corona nicht nur ausgebremst, sondern sehen sich in ihrer Existenz bedroht.“Deshalb sei die Politik gefordert, sich stärker den Künstlern zuzuwenden, vor allem freiberuflichen, die sich mit nicht-künstlerischer Arbeit über Wasser halten und denen dadurch der Ausschluss aus der Künstlersozialkasse drohe: „Dafür fehlt nicht nur Künstlern das Verständnis.“Kultur sei eine Grundbedingung für Demokratie.
Der ebenfalls zugeschaltete NRW-Ministerpräsident Armin
Laschet lobt die Ruhrfestspiele als eines der größten und renommiertesten Theaterfestivals. Für Kulturschaffende seien die Zeiten besonders hart. Deshalb versprach Laschet, das Stipendienprogramm fortzusetzen. Seit dem vergangenen Jahr habe die Landesregierung 15.000 Stipendien an freischaffende Künstler und Künstlerinnen vergeben. Laschet: „Die 90 Millionen Euro dafür sind gut angelegtes Geld.“
Bevor tatsächlich die darstellenden Künstler die Bühne eroberten, hielt Autorin Enis Maci aus Gelsenkirchen live eine nachdenkliche Eröffnungsrede, in der sie über die Möglichkeiten von Utopie (das Motto der diesjährigen Ruhrfestspiele: „Utopie und Unruhe“), aber auch die besondere Situation einer Pandemie philosophierte.
Welche Kraft Kultur auch via Bildschirm entwickeln kann, das zeigte die Deutschlandpremiere des Stücks „Die Seidentrommel“. Der mittlerweile 87-jährige Schauspieler Yoshi Oida, lange Jahre Protagonist bei Peter Brook, spielt in diesem modernen Stück No-Theater einen Hausmeister, der heimlich die Probe einer Tänzerin (Kaori Ito, auch Choreografie) beobachtet. Als sie ihn entdeckt, fordert sie ihn auf mitzutanzen.
Bewundernswert agil für sein Alter bewegt der japanische Schauspieler seinen Körper, lässt die Arme kreisen, wiegt sich in den Hüften, animiert von der jungen, schönen
Frau. Als sie ihm ein Angebot macht, sie gehe mit ihm, wenn er die Trommel, die bisher unbeachtet am Boden liegt, gut spielt, lässt er sich von ihr an der Nase herumführen: Denn die Trommel ist mit Seide bespannt und gibt keinen Ton von sich. Enttäuscht geht er ab und kehrt als blutüberströmter Geist zurück. Ein faszinierender Pas-de-deux der beiden entwickelt sich.
Das eindrucksvolle Gastspiel der beiden in Frankreich lebenden japanischen Künstler, eine Koproduktion mit dem Festival d`Avignon und dem Théâtre de la Ville in Paris, unterstreicht den internationalen Anspruch der Ruhrfestspiele. Zeitlos, abstrakt und allegorisch berührt es ohne viele Worte und unterstreicht den Geist des Festivals, eine Experimentierbühne für neue Formen und Ideen zu sein, das aber mit jeder Menge Stars und Sternchen – hoffentlich noch in den nächsten 75 Jahren.
„Die Seidentrommel“ist ein faszinierender Pas-de-deux