Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Herdenimmunität wird nie erreicht
ANALYSE Das Konzept einer durch Impfung geschützten Bevölkerung hat ausgedient – das lässt sich ausrechnen. Nur eine kombinierte Strategie aus Vorsicht und Vorsorge wird die Infektionszahlen nach unten bringen.
Die Entwicklung eines Impfstoffs gegen das Coronavirus in nur zehn Monaten ist ein Wunder der Medizin. Doch eines erreicht die Impfung leider nicht: Die Herdenimmunität, bei der Erreger sich nicht mehr exponentiell ausbreiten können, wird verfehlt. Anders als in manchen Hollywood-Filmen gibt es also kein Ende der Pandemie.
Ist das schlimm? Verliert die Impfkampagne gar ihren Sinn? Dazu muss zunächst das Konzept der Herdenimmunität erklärt werden. Darunter versteht man in einer Pandemie eine bestimmte Prozentzahl der Bevölkerung, die immun sein muss, um dem Virus die Chance zu nehmen, einen neuen Wirt zu finden. Die Krankheitswelle läuft dann aus – wie bei jeder normalen Grippe. Beim ursprünglichen Coronavirus steckte ein Infizierter ohne vorsorgende Maßnahmen im Schnitt drei bis vier weitere Personen an. Ausgedrückt wird das im Reproduktionswert. Unterstellt man einen derartigen R-Wert von 3,3, wie das die meisten Wissenschaftler tun, ergibt sich daraus nach einer einfachen Formel eine Herdenimmunität bei 70 Prozent. Die unterstellt auch die Bundesregierung als Zielmarke.
Die gute Nachricht ist nun, dass bei entsprechender Impfbereitschaft und dem sich derzeit steigernden Impftempo schon 80 Prozent der Impfberechtigten bis Mitte Juni die erste Dosis erhalten würden. Ende Juli wären dann alle Menschen geimpft, wenn sie das entsprechende Angebot annehmen. Das hat jetzt das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung modellhaft errechnet. Die Bundesregierung würde ihr Versprechen, jeden Impfwilligen bis spätestens Ende September gegen das Virus zu immunisieren, sogar übererfüllen.
Es liegt also nicht an ihr, dass die Herdenimmunität nicht erreicht wird. Da die Impfung freiwillig ist, müssen für dieses Ziel alle mitmachen. Je nach Altersgruppen gibt es aber deutliche Vorbehalte gegen das Impfen. Bei den älteren und besonders gefährdeten Menschen sind nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) 80 bis 90 Prozent zur Impfung bereit, bei den Jüngeren, die eine Ansteckung meist ohne größere Probleme überstehen, ist es nur die Hälfte. Insgesamt lässt sich auf alle Altersgruppen eine Impfbereitschaft von 76 Prozent ermitteln. Nimmt man aus der Gesamtbevölkerung die Menschen heraus, die wie Kinder oder Schwangere nicht geimpft werden dürfen, so verbleiben 73 Millionen Menschen, die immunisiert werden müssen. Von denen lassen sich dann nach RKI-Schätzungen rund 55 Millionen impfen. Vielleicht schafft man etwas mehr, wenn bei einer erfolgreichen Kampagne die Skeptiker aufspringen. Für eine Herdenimmunität sind aber sogar bei 100-prozentigem Impfschutz mindestens 58 Millionen Impfungen notwendig. Bestenfalls, wenn man die Genesenen von rund drei Millionen addiert, würde man knapp die kritische Zahl erreichen.
Trotz aller Erfolge mit dem Impfstoff reduzieren selbst die fortschrittlichen Mittel von Biontech und Moderna mit ihrer mRNA-Methode die Ansteckungsgefahr um lediglich 90 Prozent. Das ist viel, aber die Herdenimmunität wird jetzt abermals verfehlt. Denn sie müsste nun bei 78 Prozent oder 64 Millionen Impfungen liegen. Dazu kommen die infektiöseren Mutationen des Virus. Der Biologe Sebastian Binder vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung ist deshalb sehr skeptisch: „Die ansteckendere und inzwischen dominante Variante B.1.1.7 hat den dafür notwendigen Anteil geimpfter Personen noch einmal angehoben, denn dieser Schwellenwert hängt direkt von der Übertragbarkeit ab.“Mit anderen Worten: Das Erreichen der Herdenimmunität allein durch Impfungen ist sehr unwahrscheinlich. Das haben auch aktuelle Untersuchungen britischer Epidemiologen ergeben.
Das Konzept der Herdenimmunität hat also ausgedient. Auch in Israel, den USA und Großbritannien, die mit ihren Impfkampagnen schon viel weiter sind als Deutschland, wird das Ziel nicht mehr vorrangig verfolgt. Dort sind mittlerweile mehr Impfstoffe verfügbar, als der Nachfrage entspricht.
Trotzdem bleibt das Impfen wichtig. Denn es schützt die Menschen, die ihre Dosis erhalten haben, viel besser vor Ansteckungen oder zumindest vor einem schweren Verlauf der Covid-Krankheit. In Israel und Großbritannien ist zudem auch die Ansteckungsrate bei den nicht geimpften Personen als Folge einer vorsichtigen Lockerung zurückgegangen, sodass die Inzidenzen dort jetzt weit unter allen kritischen Werten liegen. Anders in Chile, wo nach den ersten Impferfolgen zu früh gelockert wurde und ein erneuter Lockdown notwendig war, um die sprunghafte Ausbreitung des Virus wieder einzudämmen.
Wenn also das Konzept der Herdenimmunität fällt, müssen wir uns noch auf längere Zeit mit Hygienemaßnahmen, Abstand und Masken einstellen. Entscheidend wird auch die Öffnungsstrategie sein, zumal höhere Inzidenzwerte vor allem durch den Auslandsreiseverkehr ausgelöst werden können.
Der Kampf gegen die Pandemie bleibt also eine komplexe und vielschichtige Aufgabe. Das Impfen leistet einen maßgeblichen Beitrag, aber nicht den alleinigen. Es wird kein offizielles Ende der Seuche geben. Dazu ist auch die Lage in den anderen Teilen der Welt – etwa in Indien oder Brasilien – zu dramatisch. Und neuere Varianten könnten auch aktuelle Impferfolge zunichte machen. Trotzdem gibt es Hoffnung, auch ohne das Erreichen der Herdenimmunität. Das zeigen die Vorreiterländer.