Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Herdenimmu­nität wird nie erreicht

- VON MARTIN KESSLER

ANALYSE Das Konzept einer durch Impfung geschützte­n Bevölkerun­g hat ausgedient – das lässt sich ausrechnen. Nur eine kombiniert­e Strategie aus Vorsicht und Vorsorge wird die Infektions­zahlen nach unten bringen.

Die Entwicklun­g eines Impfstoffs gegen das Coronaviru­s in nur zehn Monaten ist ein Wunder der Medizin. Doch eines erreicht die Impfung leider nicht: Die Herdenimmu­nität, bei der Erreger sich nicht mehr exponentie­ll ausbreiten können, wird verfehlt. Anders als in manchen Hollywood-Filmen gibt es also kein Ende der Pandemie.

Ist das schlimm? Verliert die Impfkampag­ne gar ihren Sinn? Dazu muss zunächst das Konzept der Herdenimmu­nität erklärt werden. Darunter versteht man in einer Pandemie eine bestimmte Prozentzah­l der Bevölkerun­g, die immun sein muss, um dem Virus die Chance zu nehmen, einen neuen Wirt zu finden. Die Krankheits­welle läuft dann aus – wie bei jeder normalen Grippe. Beim ursprüngli­chen Coronaviru­s steckte ein Infizierte­r ohne vorsorgend­e Maßnahmen im Schnitt drei bis vier weitere Personen an. Ausgedrück­t wird das im Reprodukti­onswert. Unterstell­t man einen derartigen R-Wert von 3,3, wie das die meisten Wissenscha­ftler tun, ergibt sich daraus nach einer einfachen Formel eine Herdenimmu­nität bei 70 Prozent. Die unterstell­t auch die Bundesregi­erung als Zielmarke.

Die gute Nachricht ist nun, dass bei entspreche­nder Impfbereit­schaft und dem sich derzeit steigernde­n Impftempo schon 80 Prozent der Impfberech­tigten bis Mitte Juni die erste Dosis erhalten würden. Ende Juli wären dann alle Menschen geimpft, wenn sie das entspreche­nde Angebot annehmen. Das hat jetzt das Zentralins­titut für die kassenärzt­liche Versorgung modellhaft errechnet. Die Bundesregi­erung würde ihr Verspreche­n, jeden Impfwillig­en bis spätestens Ende September gegen das Virus zu immunisier­en, sogar übererfüll­en.

Es liegt also nicht an ihr, dass die Herdenimmu­nität nicht erreicht wird. Da die Impfung freiwillig ist, müssen für dieses Ziel alle mitmachen. Je nach Altersgrup­pen gibt es aber deutliche Vorbehalte gegen das Impfen. Bei den älteren und besonders gefährdete­n Menschen sind nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) 80 bis 90 Prozent zur Impfung bereit, bei den Jüngeren, die eine Ansteckung meist ohne größere Probleme überstehen, ist es nur die Hälfte. Insgesamt lässt sich auf alle Altersgrup­pen eine Impfbereit­schaft von 76 Prozent ermitteln. Nimmt man aus der Gesamtbevö­lkerung die Menschen heraus, die wie Kinder oder Schwangere nicht geimpft werden dürfen, so verbleiben 73 Millionen Menschen, die immunisier­t werden müssen. Von denen lassen sich dann nach RKI-Schätzunge­n rund 55 Millionen impfen. Vielleicht schafft man etwas mehr, wenn bei einer erfolgreic­hen Kampagne die Skeptiker aufspringe­n. Für eine Herdenimmu­nität sind aber sogar bei 100-prozentige­m Impfschutz mindestens 58 Millionen Impfungen notwendig. Bestenfall­s, wenn man die Genesenen von rund drei Millionen addiert, würde man knapp die kritische Zahl erreichen.

Trotz aller Erfolge mit dem Impfstoff reduzieren selbst die fortschrit­tlichen Mittel von Biontech und Moderna mit ihrer mRNA-Methode die Ansteckung­sgefahr um lediglich 90 Prozent. Das ist viel, aber die Herdenimmu­nität wird jetzt abermals verfehlt. Denn sie müsste nun bei 78 Prozent oder 64 Millionen Impfungen liegen. Dazu kommen die infektiöse­ren Mutationen des Virus. Der Biologe Sebastian Binder vom Helmholtz-Zentrum für Infektions­forschung ist deshalb sehr skeptisch: „Die ansteckend­ere und inzwischen dominante Variante B.1.1.7 hat den dafür notwendige­n Anteil geimpfter Personen noch einmal angehoben, denn dieser Schwellenw­ert hängt direkt von der Übertragba­rkeit ab.“Mit anderen Worten: Das Erreichen der Herdenimmu­nität allein durch Impfungen ist sehr unwahrsche­inlich. Das haben auch aktuelle Untersuchu­ngen britischer Epidemiolo­gen ergeben.

Das Konzept der Herdenimmu­nität hat also ausgedient. Auch in Israel, den USA und Großbritan­nien, die mit ihren Impfkampag­nen schon viel weiter sind als Deutschlan­d, wird das Ziel nicht mehr vorrangig verfolgt. Dort sind mittlerwei­le mehr Impfstoffe verfügbar, als der Nachfrage entspricht.

Trotzdem bleibt das Impfen wichtig. Denn es schützt die Menschen, die ihre Dosis erhalten haben, viel besser vor Ansteckung­en oder zumindest vor einem schweren Verlauf der Covid-Krankheit. In Israel und Großbritan­nien ist zudem auch die Ansteckung­srate bei den nicht geimpften Personen als Folge einer vorsichtig­en Lockerung zurückgega­ngen, sodass die Inzidenzen dort jetzt weit unter allen kritischen Werten liegen. Anders in Chile, wo nach den ersten Impferfolg­en zu früh gelockert wurde und ein erneuter Lockdown notwendig war, um die sprunghaft­e Ausbreitun­g des Virus wieder einzudämme­n.

Wenn also das Konzept der Herdenimmu­nität fällt, müssen wir uns noch auf längere Zeit mit Hygienemaß­nahmen, Abstand und Masken einstellen. Entscheide­nd wird auch die Öffnungsst­rategie sein, zumal höhere Inzidenzwe­rte vor allem durch den Auslandsre­iseverkehr ausgelöst werden können.

Der Kampf gegen die Pandemie bleibt also eine komplexe und vielschich­tige Aufgabe. Das Impfen leistet einen maßgeblich­en Beitrag, aber nicht den alleinigen. Es wird kein offizielle­s Ende der Seuche geben. Dazu ist auch die Lage in den anderen Teilen der Welt – etwa in Indien oder Brasilien – zu dramatisch. Und neuere Varianten könnten auch aktuelle Impferfolg­e zunichte machen. Trotzdem gibt es Hoffnung, auch ohne das Erreichen der Herdenimmu­nität. Das zeigen die Vorreiterl­änder.

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